Da Präsident Erdogan keinerlei Anzeichen erkennen lässt, sämtliche von der EU geforderten und mit dem türkischen Regierungschef Davutoglu ausgehandelten Kriterien im Rahmen des Flüchtlingspakts umsetzen zu wollen, droht das Europaparlament jetzt, erst über die von der Türkei gewünschten Visumsfreiheit anzustimmen, sobald alle EU-Forderungen erfüllt sein werden,

Jegliche weitere Beratungen über die Visumliberalisierung für türkische Bürger wurden bereits bis auf weiteres ausgesetzt, verlautete es am Dienstag aus dem zuständigen Ausschuss für bürgerliche Freiheiten und Justiz (Libe) in Straßburg.

Nach Angaben von Insidern wurde diese Grundsatzentscheidung zu dieser Vorgehensweise bereits in der vergangenen Woche im Kreis der Fraktionschefs und damit auf höchster Ebene des Parlaments getroffen. Es hieß, es gebe eine „klare Vereinbarung“ zwischen Sozialdemokraten, Konservativen und Liberalen, die auch von den Grünen und Linken mitgetragen wird. Sollte sich somit weiterhin an der harten Haltung Ankaras bzw. Erdogans nichts ändern, werde es keine Visumfreiheit für die Türken geben.

Die Brisanz besteht darin, dass es ohne eine Zustimmung des Parlaments keine Visumsfreiheit gibt, und es kann nicht darüber abstimmen, solange der „Libe-Ausschuss“ nicht darüber berät und diesen ins Plenum einbringt.

Die wichtigste nicht erfüllte EU-Forderung betrifft die Änderung des Anti-Terror-Gesetzes, welches in der Türkei vornehmlich zur Unterdrückung von Minderheiten, Oppositionspolitikern und Journalisten dient. Erdogan hat jedoch erst kürzlich nachdrücklich betont, er sei zu keinerlei Änderung am Anti-Terror-Gesetz bereit.

Niemand sei ernsthaft an einer weiteren Eskalation interessiert, heißt es im Europaparlament – und es bestehe noch eine vage Hoffnung über eine Einigung zwischen der EU und der Türkei. Dennoch besteht derzeit eine realistische Gefahr, der Flüchtlingsdeal könnte an der Visumfrage scheitern. Beide Seiten haben sich öffentlich bereits so klar in ihren Positionen festgelegt, dass ein Ausweg ohne Gesichtsverlust der einen oder anderen Seite nur noch schwer vorstellbar erscheint.

Erschwerend wirkt sich zudem aus, dass das Europaparlament, obwohl es bei der Visumfreiheit mitzuentscheiden hat, an den bisherigen Verhandlungen zwischen der EU-Kommission, den Staats- und Regierungschefs und der Türkei kaum beteiligt wurde.

Erdogans hartes Vorgehen gegen Kritiker nicht nur in der Türkei, sondern auch in anderen Ländern wie etwa in Deutschland, stieß darüberhinaus auf besonders geringes Verständnis. So habe man die Aussage des türkischen Präsidenten, er werde das Anti-Terror-Gesetz nicht ändern, als „Kampfansage“ verstanden.

Zusammengefasst: Die Visumfreiheit für Türken gilt als die wichtigste Gegenleistung der EU für die Hilfe Ankaras in der Flüchtlingskrise. Der türkische Präsident Erdogan hat gedroht, den Deal platzen zu lassen, sollte er die Visumfreiheit nicht bekommen. Doch er lehnt es inzwischen ab, wichtige Kriterien zu erfüllen, auf die sich die Türkei verpflichtet hat. Das Europaparlament, das der Visumfreiheit zustimmen muss, droht deshalb jetzt mit einer Blockade.

von

Günter Schwarz – 11.05.2016