Der Druck und die Erwartungen aus ganz Europa auf die Kanzlerin waren enorm. Für Angela Merkel stand bei dem Treffen mit dem türkischen Präsidenten heute viel auf dem Spiel, denn ein einfacher Gesprächspartner ist Recep Tayyip Erdoğan nicht.

Eine geschlagene Viertelstunde ließ er die mächtigste Frau Europas warten, dann wurde sie beim starken Mann der Türkei vorgelassen. Doch als Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Kanzlerin Angela Merkel dann um 14.15 Uhr endlich im Raum Yildiz des zweckmäßigen Istanbuler Kongresszentrums begrüßte, ging es doch einigermaßen freundlich zu. Erst sagte er auf Englisch „welcome“ zu Merkel, dann schob er ein „Willkommen“ auf Deutsch hinterher.

Erdoğans Mannschaft hatte noch kurz vor dem mit Spannung erwarteten Treffen mit der Kanzlerin die Räumlichkeiten ändern lassen. Als er Merkel empfing, saß der Staatspräsident in einem Raum, in dem er zuvor schon eine Reihe anderer Staats- und Regierungschefs empfangen hatte. Vor Merkel war der niederländische Ministerpräsident und EU-Ratspräsident Mark Rutte an der Reihe.

Merkel reichte Erdoğan vor zwei großen türkischen Flaggen die Hand. Auf dem Beistelltischchen standen – wie bei solchen Gelegenheiten üblich – zwei kleine Flaggen, neben der türkischen auch ein schwarz-rot-goldenes Banner.

Nach dem einstündigen sehr offen geführten Gespräch machte Merkel klar, dass an eine Visafreiheit für die Türkei wie geplant schon zum 1. Juli nicht zu denken sei. Ankara werde bis dahin vor allem die Bedingungen der EU zur Änderung der Anti-Terror-Gesetze nicht erfüllen können. Die Erfüllung aller 72 Bedingungen sei aber notwendig, damit die EU und Deutschland der Visafreiheit zustimmen könnten. Für geplatzt hält Merkel das Abkommen mit der Türkei aber dennoch nicht.

Die Abschaffung der Immunität von mehr als einem Viertel der Abgeordneten des türkischen Parlaments sei Grund zu tiefer Besorgnis, sagte Merkel vor Journalisten – dieses habe sie Erdoğan auch sehr deutlich gemacht. „Wir brauchen eine unabhängige Justiz, wir brauchen unabhängige Medien, und wir brauchen ein starkes Parlament“, schrieb sie Erdoğan ins Stammbuch.

Dennoch habe sie den Eindruck, dass auch der Präsident ein Interesse am Flüchtlingspakt habe. Die Bedingungen müssten nun weiter Schritt für Schritt umgesetzt werden. „Es ist nicht meine erste politische Erfahrung damit, dass etwas auch in der Umsetzung Mühe bereitet“, sagte Merkel. Noch seien nicht alle ihre Fragen an Erdoğan beantwortet.

Zuhause in Deutschland war die Erwartung an das Gespräch mit Erdogan so hoch wie lange nicht bei einem der vielen internationalen Treffen Merkels. Die Aufforderung, sie solle Erdoğan mal so richtig die Meinung geigen, gehörte noch zu den harmloseren Tipps in ihrem Reisegepäck.

Weitaus mehr hatten Merkel da schon die süffisanten Äußerungen des SPD-Fraktionschefs Thomas Oppermann genervt. Er hatte von ihr quasi ultimativ verlangt, Erdoğan beim Flüchtlingspakt mit der EU endlich auf Kurs zu bringen. Oppermann verkniff sich auch nicht den Hinweis, man solle sich vor „einem allzu devoten Umgang“ mit dem Staatspräsidenten hüten wobei sich die Frage stellt: Ist Oppermann so naiv, oder hat er sich seine Naivität erst mühsam antrainieren müssen!“.

In der langen Reihe der Kritiker hatte jedoch der CSU-Chef Horst Seehofer wieder einmal das Tüpfelchen auf das „i“ gesetzt. Er ist davon überzeugt, dass Merkels Flüchtlingspolitik lediglich die Rechtspopulisten von der AfD stärke. Kritik an Erdoğan werde seiner Meinung nach nur leise geäußert, „weil man offensichtlich den Deal an sich nicht gefährden will“, sagte er in der ARD, ohne Merkel dabei beim Namen zu nennen. Grundfehler des Pakts mit der Türkei sei gewesen, das Flüchtlingsthema mit dem EU-Beitritt und der Visumfreiheit für türkische Bürger in der EU zu verbinden. So habe man sich in die Abhängigkeit von Erdogan begeben.

Merkel konnte seinerzeit mit dem eher auf Ausgleich bedachten scheidenden Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu bei Verhandlungen besser umgehen als mit Erdoğan. Dessen aufbrausende, oft laute und jede Diplomatie entbehrende Art liegt ihr gar nicht. Besonders schwierig findet sie, dass er Themen blitzschnell zur Frage der persönlichen Ehre machen kann und sich persönlich attackiert fühlt. Dann, so hat sie es erlebt, ist kaum noch ein weiteres Gespräch möglich und jeder Kompromiss unmöglich.

Aber auch wenn sie für den Erfolg des Paktes kämpft – den Vorwurf, sie lasse sich deswegen von Erdoğan den Mund verbieten, hält die Kanzlerin fast schon für absurd. So richtig ärgert sie, dass Erdoğan heute so tut, als habe die EU die Reform der Anti-Terror-Gesetze als Bedingung für die Visafreiheit draufgesattelt. Dabei hatte er selber der entsprechenden Vereinbarung darüber Ende 2013 noch als Ministerpräsident zugestimmt. Auch das dürfte Merkel ihrem unbequemen Gesprächspartner deutlich gemacht haben.

Merkel will die Türkei nicht in die Ecke stellen

Doch bei allem Ärger über Erdoğan ist Merkels Ansatz ein pragmatischer: Was nützt es, wenn sie die in Deutschland öffentlich verlangte Mutprobe besteht und mit ihm so richtig Tacheles redet – aber bei der Frage, was die EU gegen die Fluchtursachen tun kann, um den Zug der Flüchtenden zu stoppen, nichts erreicht? Deswegen engagiert sich die Kanzlerin dafür, dass Erdoğan nicht beim Flüchtlingspakt abspringt – auch wenn sie dafür öffentlich in der Kritik steht.

Merkel sieht die politische Entwicklung in der Türkei – in der Erdoğan immer mehr Macht anhäuft – zwar als gefährlich an. Zugleich warnt sie aber davor, das Land pauschal in die Ecke zu stellen. Ihr fehlt in der deutschen Debatte bisweilen die nötige Portion Einfühlungsvermögen gegenüber den Türken. Gerade vor dem Hintergrund von drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland müsse die Politik fast alles für ein vernünftiges Zusammenleben tun.

Auch nach Merkels schwierigem Besuch bei Erdoğan dürfe in den deutsch-türkischen Beziehungen der Konfliktstoff nicht ausgehen. Eine neue Eskalationsstufe könnte schon nächste Woche erreicht werden. Am 2. Juni will der Bundestag über eine lange hinausgeschobene Resolution zu den Gräueltaten an den Armeniern im Osmanischen Reich abstimmen. Schon die Überschrift dürfte Erdoğan zur Weißglut treiben – dort ist von „Völkermord“ an den Armeniern die Rede, der von den Türken seit mehr als 100 Jahren strickt geleugnet wird und dort bei Zugabe der Tat sogar unter Strafe steht.

von

Günter Schwarz – 23.05.2916