David Cameron wird als der Mann in die Geschichte eingehen, der Großbritannien gegen seinen Willen aus der EU geführt hat. Dabei wollte er nur seine Karriere retten. Jetzt steht er vor deren Trümmern.

So bleibt dem gescheiterten Mann am Ende wenigstens eine Genugtuung: Er kann immerhin den Zeitplan seines Rücktritts bestimmen. 30 Sekunden hatte ihm sein Parteifreund Kenneth Clarke im Fall des Brexits in der Downing Street gegeben. Doch nun werden es wohl doch etwas mehr sein. Bis Oktober will der britische Premierminister David Cameron die Amtsgeschäfte noch weiter führen. Dann will er zurücktreten und Großbritannien dem Schicksal überlassen, das er zu veranworten hat.

Schon am Donnerstag bei der Stimmabgabe sah Cameron müde aus und war stumm. Als David Cameron aus dem schwarzen Jaguar stieg, der ihn und seine Frau das kurze Stück von der Downing Street zu ihrem Wahllokal gegenüber der Westminister Abbey gefahren hatte, sagte er kein Wort. Er hielt sich an seiner Frau fest, Samantha, der perfekten Politikergattin, die ein konservativ-blaues Kleid mit dezentem „In“-Anstecker trug. Sie strahlte, er lächelte dünnlippig.

Die üblichen Aufforderungen der Journalisten zu erklären, wie sicher er sich seiner Sache sei, ignorierte er. Er wirkte taub. Selbst als seine Frau mit einem Lachen das großformatige Bild kommentierte, das jemand mitgebracht und an die Wand gelehnt hatte, reagierte er nicht.

Die Karikatur zeigte Boris Johnson und Nigel Farage, die Anführer der Brexit-Kampagne, die nackt, von einem Esel mit Augenbinde gezogen, auf einem Brexit-Karren über die weißen Felsen von Dover in den Abgrund fahren. David Cameron, der britische Premierminister, fand das Bild nicht witzig.

Beispiellose Fehlkalkulation

Er wird in die Geschichte eingehen als der Mann, der Großbritannien aus Versehen aus der EU geführt hat. Es war keine Absicht – soviel steht fest. Es war eine beispiellose, grandiose Fehlkalkulation. Ein epochales Beispiel für den Schaden, den ein einzelner Politiker anrichten kann, wenn er seiner eigenen Karriere zuliebe das Schicksal seines Landes aufs Spiel setzt. In Camerons Fall hat er gleich die Zukunft eines ganzen Kontinents aufs Spiel gesetzt.

Möglich gemacht hat das eine historische Verkettung ungünstiger Umstände. Da ist zunächst einmal die wohl fraglose Tatsache, dass Cameron von Haus aus ein Europaskeptiker ist. Als junger Abgeordneter gehörte er zu jenem Flügel der Konservativen, die der immer tieferen Integration in Europa instinktiv misstrauten.

Steve Hilton, sein ehemals engster Berater, erklärte noch vor ein paar Wochen, mitten in der Referendumskampagne, als Cameron längst mit aller Kraft gegen den Brexit kämpfte: „Wenn er ein Bürger wäre oder ein Hinterbänkler oder ein Juniorminister oder sogar ein Kabinettsmitglied, bin ich mir sicher, dass er für den Austritt wäre. Das ist er nämlich in Wirklichkeit.“

Von Verbündeten getrieben

Diese Skepsis gegenüber Brüssel war es auch, die Cameron im Jahr 2005 den Parteivorsitz verschafft hat. Nur mit Hilfe des europaskeptischen Flügels gelang sein Aufstieg – und als er oben war, als er die Partei anführte, stand er diesem rechten Flügel der Partei gegenüber in der Schuld. Von nun an wurde er, der eigentlich ein Modernisierer sein wollte, von diesen konservativen Verbündeten getrieben – mal mehr, mal weniger.

Im Januar 2013 schließlich wurde der Druck so groß, dass er keinen anderen Ausweg mehr sah, als sich mit dem Versprechen eines Referendums davon zu befreien. Er wurde damals von zwei Seiten belagert: von rechten Flügel in der eigenen Partei und von Ukip, der Anti-EU-Partei. Die stand damals bei Umfragen bei 18 Prozent.

Also tat Cameron, was ihm in dieser Konstellation am einfachsten erschien: Er gab ein Versprechen, dass er hoffte nie einlösen zu müssen. Er versprach, dass er ein Referendum über Großbritanniens Mitgliedschaft in der EU abhalten würde, wenn – und das ist der entscheidende Punkt – wenn er allein entscheiden könnte. Damals regierte er in einer Koalition mit den proeuropäischen Liberaldemokraten. Sie waren sein Bollwerk. So lange er die Liberaldemokraten an seiner Seite hatte, würde es kein Referendum geben.

Fehlende Glaubwürdigkeit

Doch dann passierte das, was niemand für möglich gehalten hatte. Im vergangenen Mai gewannen die Konservativen entgegen aller Prognosen die absolute Mehrheit. Cameron konnte allein regieren. Er musste sein Versprechen einlösen. Das kann man so interpretieren, dass er zum Opfer seines eigenen Erfolgs wurde. Weniger wohlwollend ausgedrückt, wurde er zum Opfer seines Opportunismus und opferte Großbritannien und Europa gleich mit.

Es war, als ob es ihm der Wandel vom Skeptiker zum Europa-Befürworter, den er nun im Wahlkampf für den Verbleib darstellen musste, einfach nicht gelang. Die Wähler nahmen ihm das nicht ab, sie trauten ihm nicht.

Große Politiker wachsen und gewinnen sogar an Format, wenn sie die Meinung wechseln. Winston Churchill hat das unzählige Male getan. Doch Cameron ist kein großer Politiker, es fehlt ihm an Glaubwürdigkeit und an Kraft, überzeugend zu wirken. Der Trick, die Wähler mitzunehmen und sich vor ihren Augen in einen überzeugten Europäer zu verwandeln, gelang ihm nicht. Die historische Tragweite dieses Versehens wird die Zukunft zeigen.

von

Günter Schwarz – 26.06.2016