Wer ist nicht nahezu ständig gereizt, genervt, unzufrieden? Ständig optimieren wir uns selbst und merken nicht, wie fremd wir uns dabei eigentlich werden. Der Philosoph Florian Goldberg warnt vor „geistigem Analphabetismus“, der zur inneren Verwahrlosung ganzer Gesellschaften führen könne.

Unlängst – an Pfingsten – rief Papst Franziskus zur Überwindung eines „geistigen Analphabetismus“ auf, an dem heutzutage viele Menschen litten. Selbst wenn ich als Agnostiker die naturgemäß christlichen Folgerungen des Papstes nicht teile – zurück zum Leben in Jesu und so weiter – sein Diktum blieb doch haften.

Zumal am selben Wochenende noch eine andere Meldung die Runde machte: In Stralsund hatten Unbekannte vor Angela Merkels Wahlbüro einen Schweinskopf mit beleidigender Aufschrift niedergelegt, um damit ihrem Hass auf die Kanzlerin bezüglich ihrer Flüchtlingspolitik Ausdruck zu verleihen.

Das Lexikon definiert Analphabetismus als „kulturell, bildungs- oder psychisch bedingte individuelle Defizite im Lesen oder Schreiben bis hin zum völligen Unvermögen in diesen Disziplinen.“
Unfähigkeit zur Selbstwahrnehmung

Entsprechend könnte man als geistigen Analphabetismus ebensolche Defizite im Entziffern oder Entwerfen des eigenen Inneren bis hin zur völligen Unfähigkeit zur Selbstwahrnehmung bezeichnen. Die Folge sind erhebliche Schwierigkeiten in der Kommunikation, die weitere Frustrationen und innere Konflikte nach sich ziehen.

Auf die Stralsunder „Schweinskopf-Niederleger“ angewandt, lässt der schriftliche Teil der Beleidigung darauf schließen, dass die Urheber des Lesens und Schreibens zumindest in Grundzügen mächtig sein dürften. Der Gebrauch, den sie von dieser Fähigkeit machen, weist in Richtung unserer Auslegung des päpstlichen Worts: Offenbar handelt es sich um Menschen, die so wenig mit sich in Kontakt sind, dass sie auf Verunsicherungen nur sehr unangemessen reagieren können.

So traurig das für sie und so, gelinde gesagt, unerfreulich es für die meisten anderen ist, allein sind sie damit nicht. In Abstufungen betrifft uns das Phänomen alle – den einen etwas mehr, den anderen etwas weniger.

Alphabetismus kostet Zeit, Mühe und Geld

Die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben fällt nicht vom Himmel. Sie ist das Ergebnis gesellschaftlicher und persönlicher Entscheidungen. Sie kostet Zeit, Geld und Mühe. Einmal erlernt, muss sie weiterhin gepflegt und vertieft werden, damit sie einem nicht wieder verkümmert. Institutionen müssen her, die sich um die ständig nachrückenden Generationen anleiten und kümmern.

Dasselbe gilt auch für einen geistigen Alphabetismus; auch dieser entwickelt sich in dem Maße, in dem er von möglichst früh auf gefördert wird. Er braucht Zeit, Muße und zweckfreie, spielerische Zugänge zum Leben.

Aber einmal ehrlich: Wann haben Sie das letzte Mal Ihr Kind gefragt, wie es in der Schule mit dem Achtsamkeitstraining oder im gemeinsamen Denken des Bohm’schen Dialogkreises läuft? Wahrscheinlich nie, denn seit Jahren befinden sich ja schon die hergebrachten geistigen und musischen Fächer auf dem Rückzug. Weiterentwicklung? – Fehlanzeige! – Die sogenannte Bildungspolitik verfolgt andere Ziele.
Und Sie selbst? Wann haben sie das letzte Mal für ein paar Stunden nur so im Gras gelegen, um einfach nur in den Himmel zu schauen?

Vom menschlichen Menschen zur menschlichen Ressource

Hatten frühere Bildungs- und damit Gesellschaftsideale noch den homo humanus, also den wahrhaft menschlichen Menschen im Sinn, unterwerfen wir unser Dasein zunehmend der wirtschaftlichen Verwertbarkeit. Es beginnt in Schulen und Universitäten und setzt sich im Berufsleben fort. Human resource statt homo humanus. Es ist zwar ständig von Selbstoptimierung die Rede, aber auch diese zielt im Allgemeinen nur darauf ab, funktionale Faktoren wie Leistunungsfähigkeit, Attraktivität und Fitness zu steigern. Wir machen uns zum Mittel anstatt Zweck in uns selbst zu sein.

Die Folge ist eine fortschreitende innere Verwahrlosung der Gesellschaft, die sich an den Rändern naturgemäß schneller als im Zentrum zeigt.

Der Extremismus unserer Tage entsteht nicht im luftleeren Raum. Alles hängt miteinander zusammen. Aber es ist leichter, sich über die offensichtlichen Übeltäter von Stralsund zu empören, als die vielen kleinen Symptome zu bemerken, die anzeigen, wie fern man sich selbst bereits ist – die latente Gereiztheit im Familienkreis, die Furcht, sich und anderen nicht zu genügen, das hartnäckige Gefühl, es mit lauter Idioten zu tun zu haben. Sie kennen ihre eigenen Beispiele sicher am Besten!

Es wird also höchste Zeit für ein paar neue gesellschaftliche wie persönliche Entscheidungen. Es ist Zeit für die Frage, welche inneren Fertigkeiten wir unseren Kindern mitgeben und wofür wir selbst leben wollen. Es ist Zeit, unser je eigenes geistiges Alphabet – neu – buchstabieren zu lernen.

von

Günter Schwarz – 03.06.2016