Über dem Abschuss eines russischen Kampfjets waren Putin und Erdoğan in Streit geraten. Nun wird Versöhnung gefeiert – wenig überraschend, denn beide Autokraten eint eine ähnlich antiwestliche Agenda.

Am 24. November letzten Jahres wurde ein russischer Jagdflieger abgeschossen, der den türkischen Luftraum verletzt hatte. Da Recep Tayyip Erdoğan eine Entschuldigung verweigerte, ließ Präsident Putin wirtschaftliche Sanktionen gegen die Türkei verhängen. Doch der Streit wirkte aufgesetzt, ungeachtet des martialisch wirkenden Zerwürfnisses war abzusehen, dass er irgendwann ein Ende finden würde. In der Tat hat Erdoğan vor kurzem nicht nur sein Bedauern über den Vorfall ausgedrückt, er ließ gleich auch noch die Piloten verhaften, die für den Abschuss der russischen Maschine verantwortlich waren. Gemäß Agenturmeldungen wird Erdoğan nun am 9. August in St. Petersburg zu Besuch erwartet.

Russland und die Türkei waren nie Verbündete. Zwischen 1686 und 1878 wurden zehn russisch-türkische Kriege, gelegentlich unter Beteiligung wechselnder europäischer Verbündeter, ausgefochten. Dabei gelang es dem expandierenden Zarenreich, die Osmanen aus der Ukraine, der Krim und dem Kaukasus zu verdrängen. Doch bereits zur Zeit des Krim-Krieges galten beide Großreiche als morsch: als „Koloss auf tönernen Füssen“ und als „kranker Mann am Bosporus“.

Gemeinsames revisionistisches Projekt

Träumte Russland beim Eintritt in den Ersten Weltkrieg noch von der Eroberung Konstantinopels und der Meerengen; dann brachen beide Großreiche bald zusammen. Anfang der zwanziger Jahre, als Atatürk die Türkei als Nationalstaat nach europäischem Vorbild gründete, stellte Lenin das zerfallene Russische Reich als Sowjetunion wieder her. Sein Nachfolger Stalin rüstete diese nach dem Zweiten Weltkrieg zur kommunistischen Supermacht auf. Die UdSSR forderte den Westen heraus, während die Türkei in die Nato aufgenommen wurde und ein Teil des antikommunistischen Schutzwalls wurde. Das Land profitierte in der Folge enorm von der Westbindung. Als das Sowjetimperium 1991 in die Brüche ging, war die Türkei bereits seit Dezennien ein säkularer Nationalstaat und eine Marktwirtschaft.

Eine antiwestliche Allianz wäre im Grunde eine logische Folge der gescheiterten Verwestlichung, die beide Restimperien kennzeichnet.

Noch bis vor kurzem schienen außenpolitische Interessen der Türkei und Russlands keine großen Gemeinsamkeiten aufzuweisen. Doch die fast 400 Jahre andauernde Entfremdung könnte ein Ende finden. Heute verfolgen beide Staaten einen ähnlichen revisionistischen Kurs. Erdoğan will weg vom Kemalismus hin zum islamistischen Staat. Zu diesem Projekt gehört auch eine Islamisierung Europas. Dort kann die Türkei auf staatliche und konfessionelle Strukturen setzen, welche seit Jahrzehnten erfolgreich ausgebaut wurden – zum Zwecke, die Integration türkischstämmiger Einwanderer zu unterlaufen.

Der Kreml möchte die internationale Anerkennung ehemaliger Sowjetrepubliken als eigene Einflusssphäre festschreiben und deren Hinwendung zum Westen unterbinden. Seinen Anspruch, wieder als Großmacht anerkannt zu werden, setzt er um mit Hilfe subversiver Aktivitäten, die in ihrer gesamten Vielfalt als hybrider Krieg bezeichnet werden. Russland wie die Türkei können im Ausland auf „fünfte Kolonnen“ zählen.

Dabei geht die Ähnlichkeit beider Regime weit über den bloßen Autoritarismus hinaus. Die Türkei und Russland sind Polizeistaaten; ihre Führer sind bereit, Sicherheit und Wohlstand ihrer Bürger der persönlichen Machtsicherung und ihren geopolitischen Ambitionen zu opfern. Die von Erdoğan vorangetriebenen Re-Islamisierung der Türkei, seiner Abkehr vom kemalistischen Erbe entspricht in Russland eine Abkehr vom Westen und eine Abwendung von der Aufklärung, die von der orthodoxen Kirche wie auch von staatlichen Institutionen betrieben werden. Im alten Konflikt zwischen Westlern und Slawophilen haben orthodoxer Obskurantismus und Unterwerfung die Oberhand gewonnen.

Kastration der Eliten

Die Kastration der Elite, die periodisch wiederkehrende Dezimierung einer weltoffenen, liberalen Intellektuellenschicht, läuft in Russland wie auch in der Türkei auf Hochtouren. Der postsowjetische Quasi-Traditionalismus und die Willkürherrschaft lassen die politische russische Kultur ungeachtet aller historischen und konfessionellen Unterschiede der islamischen immer ähnlicher erscheinen. Auch psychologisch – das hat der kurzlebige Streit zwischen Putin und Erdoğan offengelegt – sind sich die beiden Autokraten näher, als ihre kulturelle Herkunft vermuten ließe.

Eine antiwestliche Allianz zwischen der Türkei und Russland wäre im Grunde eine logische Folge der gescheiterten Verwestlichung, die beide Restimperien kennzeichnet. Allerdings ist die Türkei nach wie vor Nato-Mitglied, und es muss viel geschehen, damit sie dem Bündnis den Rücken kehrt. Zudem haben Putin und Erdoğan ernsthafte Differenzen, was die Zukunft des Asad-Regimes in Syrien betrifft. Mit einem politisch-militärischen Bündnis indes könnten die erstarkten regionalen De-facto-Diktaturen das Schwarze Meer kontrollieren und Europa auf vielfältige Weise in Bedrängnis bringen.

von

Günter Schwarz – 03.08.2016