Rainer Sütfeld ist Leiter des kulturellen Wortes bei NDR Kultur.

NachDenker Rainer Sütfeld ist neugierig, ja süchtig nach Zeitungen, Nachrichten und Neuigkeiten. Nur: Was passiert, wenn der Stoff verunreinigt wird durch Gerüchte und Falschmeldungen, tausendfach, ja millionenfach verbreitet?

Sucht, wer ist schon gefeit davor? Ich nicht. Ich bin ein Zucker-Junkie. Keine Schokolade ist sicher vor mir. Die viel beschworene Selbstdisziplin versagt in jeder guten Bäckerei. Und ich bin mein Leben lang ein Nachrichten-Junkie. Habe aber immerhin im Gegensatz zum Zucker den Umgang mit Informationen, Fakten und Gerüchten gelernt – als Volontär, als Student.

Theorien wie das Stimulus Response Modell gepaukt, über den Gatekeeper, die Verantwortung des Journalisten debattiert und über die Unmöglichkeit von Objektivität gestritten. Habe die Regel verinnerlicht, dass mindestens zwei unabhängige Quellen eine Neuigkeit bestätigen müssen. Und dann selbst die Trennung von Nachricht und Kommentar gelehrt. Das war gestern.

Neues Grundrauschen der Gesellschaft

Spätestens seit München ist heute. Ein mediales Heute, in dem jeder nicht nur Empfänger, sondern auch Sender ist und vor allem Multiplikator, es wird weitergeleitet, retweetet und geteilt, was den Smartphonejunkies die Flatrate hergibt. Umherschwirrende Gerüchte werden für gefährliche Minuten zur virtuellen Wahrheit, lösen reale Panik und Polizeieinsätze aus. Die klassischen Medien, also wir, hecheln hinterher, versuchen mit alten journalistischen Kriterien der Wort und Bilderflut im Netz Herr zu werden. Und geben dem neuen Grundrauschen der Gesellschaft so ungewollt Gewicht, fördern die Sucht, den Blick von der Realität doch lieber gleich auf das Handy abzuwenden.

Die Münchner Polizei ist dem Homo twitterens gerecht geworden, hat per amtlichen bayerischen Tweets reale Entwarnung rund um Stachus und Marienplatz gegeben, tief eintauchend in ein für Polizeimeldungen bis dato so breit noch nicht genutztes Userumfeld. Dabei konnten die Beamten allerdings nur hoffen, dass Sie nicht nur von Journalisten gelesen und geteilt wurden, sondern auch Panikmacher erreichten oder gar jene, die weit entfernt vom Olympiaeinkaufszentrum in Angst und Schrecken versetzt wurden. In Nizza hatte die Polizei mit ihren Tweets Erfolg, konnte zumindest den „Twitterror“, die Falschmeldungen stoppen.

Umgang will überdacht und gelernt sein

Die schöne neue Kommunikations-Welt hat Nebenwirkungen, die uns immer bewusster werden müssten. Wobei ich wieder beim alten Reiz-Reaktions-Schema wäre, das schon bei Goethes Werther als Medieneffekt erkannt werden konnte. Der Amokläufer aus München fand seine Vorbilder zunächst im Netz und auch in Internetspielen, tauchte ab ins Darknet. Der Polizistenmörder von Dallas handelte aus Wut auch über tödliche weiße Polizeigewalt gegen Afroamerikaner, die kurz zuvor per Handy gefilmt ihren Weg durch das Netz fand und die Stimmung anheizte. Die hierzulande schockierenden Handybilder aus München fanden jubelnden Absatz auf IS-nahen Seiten.

Jeder Selbstmordattentäter aus Nizza oder Ansbach wird in den Abgründen des Internets zum heldenhaften Vorbild für Nachahmungstäter stilisiert. Die fanatischen Täter in der Kirche bei Rouen haben ihr blutiges Tun gefilmt.  Schon diese Bespiele zeigen aber, dass es keine schnelle Lösung geben kann, nicht alles per se schlecht ist. Die Aufnahmen der beiden Morde durch Polizisten sind – so aufwühlend sie waren – Zeitdokumente und Beweismittel, die nicht verheimlicht werden dürfen. Nur der Umgang damit will überdacht und gelernt sein. Sonst werden auch sie leicht als reine Propaganda missbraucht.

Die schiere Masse, weltweit aufgenommen und von zahllosen Sendern zufällig oder gezielt verbreitet, überfordert jeden an seinem Handy alleingelassenen Empfänger. Die Schnelligkeit und die Gleichzeitigkeit des Geschehens jederzeit und überall stehen im fundamentalen Gegensatz zu Reflektion und Verarbeitung.

Smartphoneweltbild bald Geschichte?

Aber der Mensch ist ein lernfähiges Wesen, er hat auch die Einführung des Buchdruckes und der Eisenbahn überlebt. Nur seine Süchte, die bekommt er kaum in den Griff. Es sei denn, er wird ihrer überdrüssig. Der Pokémon-Hype, bei dem die virtuelle Welt die reale frisst, geht auch vorbei. Und vielleicht ist es dem Menschen, der nur noch sein Smartphoneweltbild hat, bald zu viel, was da auf ihn einstürmt. Vielleicht schauen sie dann nach dem Overkill wieder hoch und suchen den analogen Dialog, sprechen über Geschehenes, um es zu verstehen. Vielleicht gehe ich demnächst doch an mehr Bäckereien vorbei, weil ich mich an Puddingschnecken satt gegessen habe. Für die Abschaffung der Bäckereien bin ich übrigens genauso wenig, wie für die Abschaffung des Internets.

Jeder Selbstmordattentäter aus Nizza oder Ansbach wird in den Abgründen des Internets zum heldenhaften Vorbild für Nachahmungstäter stilisiert. Die fanatischen Täter in der Kirche bei Rouen haben ihr blutiges Tun gefilmt.  Schon diese Bespiele zeigen aber, dass es keine schnelle Lösung geben kann, nicht alles per se schlecht ist. Die Aufnahmen der beiden Morde durch Polizisten sind – so aufwühlend sie waren – Zeitdokumente und Beweismittel, die nicht verheimlicht werden dürfen. Nur der Umgang damit will überdacht und gelernt sein. Sonst werden auch sie leicht als reine Propaganda missbraucht.

Die schiere Masse, weltweit aufgenommen und von zahllosen Sendern zufällig oder gezielt verbreitet, überfordert jeden an seinem Handy alleingelassenen Empfänger. Die Schnelligkeit und die Gleichzeitigkeit des Geschehens jederzeit und überall stehen im fundamentalen Gegensatz zu Reflektion und Verarbeitung.

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Rainer Sütfeld  – 04.08.2016