(netzwelt) Der Umgangston im Internet steht seit Jahren in der Debatte. In den Fokus der Öffentlichkeit geriet das Thema erst, nachdem sich anlässlich der Flüchtlingskrise Hass-Kommentare und wüste Pöbeleien in den sozialen Medien häuften.


„Faceless“, Gemälde von Marcus Jansen

Das Problem fehlender Umgangsformen ist fast so alt, wie das Internet selbst. Verschoben hat sich lediglich die Frequenz der Anwendung. Während das Internet in den frühen Jahren noch als Kommunikationsmedium eines kleinen Kreises diente, nehmen heute mehr und mehr Menschen an dieser Kommunikation teil. Nachdem Compuserve und AOL, Mitte der 90er Jahre, Internet-basiertes-E-Mail mit einer interaktiven Kommunikationsplattform verband, wuchs auch die Zahl der Anwender. Heute finden sich unter den Anwendern sämtliche alters- und soziale Schichten, die sich eine Kommunikationsplattform teilen. Dass dies zu unterschiedlichen Ansichten und Meinungsverschiedenheiten führt, läge zunächst einmal auf der Hand.

Toxische Enthemmung

Die Herausforderung besteht nicht in der heterogenen Masse des Internet, sondern in der Kommunikation selbst. 2004 formulierte der Psychologe John Suler von der Rider University in New Jersey das häufige rüde und hasserfüllte Pöbeln von Computernutzern als „toxische Enthemmung“. Die Anonymität und Unsichtbarkeit innerhalb einer digitalen Kommunikationsplattform wirkt dabei enthemmend auf die Anwender. Niemand müsse sich durch sein Aussehen, seine Stimme oder Erscheinung gehemmt fühlen. Überhaupt entfielen alle sozialen Unterschiede. Dies verleite Menschen dazu, im Schutze der Anonymität Dinge zu sagen und machen, die man bei einem analogen Gegenüber nie wagen würde. Während so eine (Rede)Freiheit auch positive Aspekte haben kann, besteht die Gefahr darin, dass sich Internet-Anwender – mehr oder weniger bewusst – einbilden, dass das Internet nur eine Traumwelt sei, abgetrennt von Pflichten, Verhaltensregeln und Verantwortlichkeiten unserer realen Welt. Dadurch bilden sich Internetanwender ein, dass ihr Verhalten im Internet überhaupt eine Konsequenzen in ihrer realen Welt habe.

Keine Rechte ohne Pflichten

Viele Menschen und auch politische Parteien berufen sich auf ein selbstverständliches Recht eines jedes Menschen auf Anonymität im Netz. Es handele sich um ein Grundrecht. Eine Bedrohung sehen diese Internet-Aktivisten durch Informations- und Kommunikationstechniken, die Datenspuren nutzen, um Informationen und Nutzerprofile der Teilnehmer zu erstellen. Ein Zugriff auf solche personenbezogenen Daten sei eine grobe Verletzung des Datenschutzes. Über die Pflichten, die ein Grundrecht auf Anonymität im Internet rechtfertigt, wird auf keiner Plattform diskutiert. Bei vollkommen uneingeschränkter Anonymität und dem Ausbleiben jeder Konsequenz für Fehlverhalten, wäre das Internet quasi ein rechtsfreier Raum – dies würde nur dann funktionieren, wenn sich jeder Nutzer freiwillig an den Verhaltenskodex einer erwachsenen und umsichtigen Gesellschaft halten würde. Das wird nie geschehen.

Die „Großen“ machen es nicht besser

Warum sollte man den „kleinen Mann“ dazu bewegen, sich im Internet anständig zu verhalten, wenn „die Großen“ es auch nicht bessermachen? Findige Köpfe aus dem Bereich des Marketing sind auf die Idee gekommen, dass Unternehmen Kosten sparen, wenn man Werbung lediglich der Zielgruppe zukommen lässt oder Webseiten dynamisch gestaltet. Das ist zwar eine tolle Idee, hat aber letztlich nur dazu geführt, dass Firmen im Internet eine Treibjagd auf personenbezogene Daten veranstalten, viele Funktionen des Internet ohne jede Rücksicht lahmlegen oder sabotieren und 98% der weltweit verschickten E-Mails Spam ist. Wenn also „renommierte“ Firmen im Internet so die Sau rauslassen und auf sämtliche Verhaltensregeln verzichten – warum sollte Herr Mustermann sich besser verhalten? Obwohl große Unternehmen regelmäßig dabei ertappt werden, die Gesetze des Datenschutzes zu unterwandern, werden Konsequenzen nur selten sichtbar.

Unmögliche Zustände

Das Verhalten von Internetanwendern bewegt sich derzeit auf einem Niveau, welches schlimmer kaum sein kann. Zwar diskutiert die Öffentlichkeit nun rechtliche Konsequenzen für „Hate-Speech“, doch reduziert sich der Fokus hierbei im Wesentlichen auf rechtspolitische Äußerungen gegen Flüchtlinge und EU-Zuwanderungspolitik. Bei frauenfeindlichen Äußerungen, Sexismus, Verletzung der Persönlichkeitsrechte, Belästigung, Beleidigung bis hin zu teilweise massiven Drohungen, muss der anonyme Internetanwender selten mit rechtlichen Konsequenzen rechnen. Im Gegenteil: Online-Pranger und Shitstorm werden von Medien und Öffentlichkeit mit völliger Selbständigkeit kommuniziert. Dass bei jedem „Shitstorm“ ein unmittelbarer Rechtsbruch vorliegt, an dem Hunderte, wenn nicht sogar Tausende, Internetanwender beteiligt sind, kommt in den Medien nicht zur Sprache.

Angriff auf die Meinungsfreiheit

In einer Presseerklärung richtet sich die EU am 31. Mai 2016 an die Öffentlichkeit und präsentiert einen Entwurf, der sich für Freiheit, Toleranz und nicht- diskriminierendes Verhalten in sozialen Medien ausspricht (siehe: Code of Conduct on illegal online hate speech). Soeren Kern, Gatestone Institute International Policy Council, kritisiert diesen Entwurf als Kriegserklärung an die Meinungsfreiheit und beruft sich auf die Notwendigkeit jihadistischer Propaganda etwas entgegenzusetzen.

Auf die Idee, der jihadistischen Propaganda vernünftige Argumente entgegenzuhalten, anstelle von Pöbeleien und Shitstorm, scheint das Gatestone Institut gar nicht zu kommen.

Charlotte Thomsen – 16. August 2016