Die diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und der Türkei sind auf einem Tiefpunkt. Beiderseitiges Misstrauen gefährdet eine schwer zu ersetzende Allianz. Es ist höchste Zeit für ein paar versöhnliche Worte.

Von vermintem diplomatischem Terrain zu sprechen, grenzt an Untertreibung. Als Joe Biden vor einem halben Jahr die Türkei besuchte, titelte das Webportal „Al-Monitor“: „Wie Biden Ankara bei seiner jüngsten Türkei-Visite genervt hat.“ Der Vizepräsident der USA hatte nicht nur diverse Menschenrechtsverstöße angeprangert. Bevor er die höchsten Repräsentanten des türkischen Staates traf, besuchte er auch noch Vertreter der Zivilgesellschaft, die gerade im Fadenkreuz der Regierung standen.

An diesem Mittwoch besucht Biden erneut die Türkei – und der Ärger ist noch viel größer. Die „New York Times“ attestierte der Türkei bereits „eine neue Welle des Antiamerikanismus“.

Die Beziehungen der beiden Staaten sind seit dem gescheiterten Putschversuch Mitte Juli weiter erodiert. So sehr, dass der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim sich am Wochenende gezwungen sah, etwas zu sagen, was unter Nato-Mitgliedern eigentlich nicht der Rede wert sein sollte: „Die USA sind unser strategischer Partner, nicht unser Feind.“ Wie konnte es soweit kommen? Und was ist von Bidens Visite zu erwarten?

Regierungsblatt streut Verschwörungstheorien

Die „neue Welle des Antiamerikanismus“ baute sich bereits am Tag nach dem niedergeschlagenen Putsch auf. Nachdem die USA den Versuch des Staatsstreichs von Teilen des Militärs verurteilten, forderten sie Ankara umgehend auf, Verhältnismäßigkeit und Rechtstaatlichkeit bei der Verfolgung Verdächtiger zu wahren. Etwas zu umgehend für den Geschmack vieler Türken. Schließlich stuften die meisten den niedergeschlagenen Putsch als Triumph der Demokratie ein und trauerten noch um die vielen Menschen, die bei der Verteidigung der gewählten Staatsführung das Leben verloren.

Als Joseph Votel, Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte im Nahen Osten, dann auch noch problematisierte, dass viele seiner Ansprechpartner beim türkischen Militär festgenommen worden seien, meldete sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan persönlich zu Wort. Er warf den USA erbost vor, sich auf die Seite der Putschisten zu stellen.

Das regierungstreue Blatt „Yeni Safak“ setzte nach und unterstellte in seitenfüllenden Berichten die Zeitung dem CIA, amerikanischen Militärs und Wissenschaftlern, in den Coup verwickelt gewesen zu sein. Namentlich ging es um den früheren Nato-Kommandeur in Afghanistan, John Campbell. Der „Mann hinter dem Coup“ soll die Putschisten mit zwei Milliarden US-Dollar durch windige Geschäfte mit nigerianischen Banken versorgt haben. Ebenfalls an den Pranger gestellt wurde Henri Barkey vom Woodrow Wilson Center. Ihm wurde unterstellt, während des Putsches in „geheimer Mission“ in der Türkei gewesen zu sein. Nach Angaben der „New York Times“ handelte es sich bei der „geheimen Mission“ um einen Lehrgang für Akademiker.

So absurd die Anschuldigungen klingen mögen, sie dürften kaum ohne das Wissen und die Zustimmung des Präsidenten im Hausblatt von Erdoğans AK-Partei erschienen sein. In den USA verbat man sich unterdessen jedwede Andeutung, Washington könnte hinter dem Coup stecken.

Ein weiterer Brandbeschleuniger war und ist der Aufenthalt von Fethullah Gülen im Bundesstaat Pennsylvania. Ankara sagt dem ideologischen Führer der islamischen Hizmet-Bewegung schon seit einigen Jahren nach, in der Türkei „parallele Strukturen“ aufzubauen und hat ihn zuletzt als Drahtzieher des Putschversuches ausgemacht. Die Türkei fordert seinen Kopf. „Sind wir nicht strategische Partner? Liefern wir Verbrecher nicht einander aus?“, fragte Erdoğan in einer Rede.

Bisher hat Ankara US-Angaben zufolge aber keine Belege für eine Verwicklung Gülens in den Plot vorgelegt. Die US-Regierung verweist auf die unabhängige amerikanische Justiz, und US-Medien tun Ankaras Anschuldigungen salopp als weitere türkische „Verschwörungstheorie“ ab.

Die USA und mithin die Nato stellt die aufgeheizte Stimmung vor eine Herausforderung. Wie umgehen mit einem Partner, der sich nicht nur von demokratischen und rechtstaatlichen Grundsätzen, sondern auch zusehends vom Geist des Zusammenhalts Verbündeter verabschiedet?

Ein guter Ort für amerikanische Atomsprengköpfe?

Der wissenschaftliche Dienst des US-Kongresses hat in einer Analyse Anfang August eine lange Liste an kritischen Punkten der Zusammenarbeit mit der Türkei zusammengestellt. Sie reicht von der künftigen Rolle des Landes in der Nato bis hin zur Nützlichkeit des Landes in der Flüchtlingskrise. Offen wird dabei auch die Möglichkeit eines Abzugs der US-Truppen von Militärbasen in der Türkei angesprochen. Die USA nutzen etliche Standorte in der Türkei. Der Militärflughafen von Incirlik ist die wichtigste Basis der Anti-IS-Koalition für ihre Luftangriffe in Syrien. Mit Sorge musste man in Washington mit ansehen, dass Ankara während des Putschversuches und in den Tagen danach die externe Stromversorgung des Stützpunktes kappte und den Luftraum für US-Jets sperrte. Zudem wurde ausgerechnet der Kommandant der Basis Incirlik als angeblicher Putschist festgenommen. Medienberichten zufolge lagern auf dem Stützpunkt amerikanische Atomsprengköpfe.

In dem Papier wird die Frage aufgeworfen, unter welchen Bedingungen auf diesen Standort verzichtet werden müsste. Hinzu kommt die Frage, inwiefern die Türkei den USA noch dienlich ist, wenn es darum geht, den Einfluss Washingtons im Nahen Osten zu steigern. Abschließende Antworten liefert das Papier nicht. Es heißt: „Die Türkei bleibt eine entscheidende Regionalmacht, die im Gegensatz zu anderen überwiegend muslimischen Kräften in der Region Verbindungen und Charakteristiken mit dem Westen teilt.“ Daher sei eine weitere Kooperation „wahrscheinlich“ weiterhin wichtig. Darauf folgt eine Passage, die zumindest unter Prämissen diplomatischer Zurückhaltung sehr deutlich ausfällt: „Aktuelle innen- und außenpolitische Entwicklungen könnten die Rolle der Türkei eingeschränkt haben, in der Region gestaltend zu wirken, als Modell für Nachbarstaaten und als Vermittler amerikanischen Interessen.“ Dass sich Ankara angesichts eines wachsenden Energiebedarfs zusehends in Abhängigkeit zu Russland und dem Iran begibt, stelle auch die Zusammenarbeit in einigen Sicherheitsfragen mit den USA und der Nato infrage.

Besuch bei einem „alten Freund“

Aus dem Papier lässt sich herauslesen: Die Türkei muss Partner bleiben, weil es keine bessere Alternative gibt. Die USA sind auf die Türkei im Nahen Osten angewiesen. Aber die Türkei ist genauso von den USA und der Nato abhängig. Ein vergleichbar erprobtes Sicherheitsnetz kann auch Russland Ankara nicht bieten. Erdoğan weiß, beim russischen Präsidenten Wladimir Putin handelt es sich um einen ausgesprochen unberechenbaren Spieler.

Letztlich ist deshalb nur damit zu rechnen, dass Ankara und Washington versuchen, sich aller Differenzen zum Trotz wieder zusammenzuraufen. Kritische Worte wird es bei Bidens Besuch, wenn überhaupt, nur hinter verschlossenen Türen zu hören geben. Der türkische Ministerpräsident versuchte mit seinem Satz, „die USA sind unser strategischer Partner, nicht unser Feind“, kurz vor dem Treffen bereits einen entsprechenden Akzent zu setzen. Und Biden stimmte mit ein. Er sagte, seine Reise werden ihn auch zu seinem „alten Freund“ Erdoğan führen.

von

Günter Schwarz – 24.08.2016