Einem Zeitungsbericht der „Bild“-Zeitung und weiterer Zeitungen zufolge will Kanzlerin Merkel die Verhandlungen der EU über einen Beitritt der Türkei „stoppen“. Doch das ist so nicht ganz richtig.

Ein Artikel in der „Bild“-Zeitung hat heute Morgen für Verwunderung gesorgt. Darin heißt es, Bundeskanzlerin Angela Merkel habe sich in einer Sitzung der Unionsfraktion dafür ausgesprochen, wegen des Vorgehens der türkischen Regierung nach dem Putschversuch die Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mit der Türkei zu stoppen.

Nach unseren Informationen ist diese Meldung falsch. Aus Unionskreisen heißt es, tatsächlich habe die Kanzlerin den Abgeordneten auf Nachfrage nur gesagt, die Öffnung weiterer Verhandlungskapitel mit der Türkei stehe ohnehin nicht zur Debatte. Von einem „Stopp“ der aktuellen Gespräche sei keine Rede gewesen. Faktisch habe sich die Haltung der Bundesregierung nicht geändert.

„Diese Meldung ist eine ,Emser Depesche‘“, sagte ein Unionsabgeordneter. Mit der gezielten Veröffentlichung eines nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Telegramms, der „Emser Depesche“, hatte der damalige preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck Frankreich 1870 zur Kriegserklärung provoziert.

Natürlich will die Bundeskanzlerin keine Kriegserklärung provozieren, sondern im Gegenteil beschwichtigen. In der vergangenen Woche hatte das Europäische Parlament sich mit breiter Mehrheit dafür ausgesprochen, die Beitrittsgespräche einzufrieren. Der entsprechende Antrag wurde auch von der konservativ-christdemokratischen Fraktion unterstützt. Bindend ist der Beschluss allerdings nicht – die Entscheidung liegt bei den Staats- und Regierungschefs.

Anders als die Meldung der „Bild“-Zeitung nahelegt, lehnt Merkel einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen jedoch ab. Dass keine neuen Kapitel in den Beitrittsverhandlungen eröffnet werden, ist längst eine gemeinsame Position in der EU. Es ist weder eine Forderung der Kanzlerin noch eine Neuigkeit. In einigen Kapiteln laufen die Verhandlungen auch weiterhin, Berichten zufolge allerdings nur stockend.

Merkel war stets gegen einen EU-Beitritt der Türkei, ist aber zugleich gegen den Abbruch der Beitrittsverhandlungen. Diese widersprüchliche Haltung erklärt sich mit der Hoffnung, über die Beitrittsgespräche Einfluss auf die politische Entwicklung in der Türkei nehmen zu können.

Abgeschlossen ist übrigens erst eines von insgesamt 35 Kapiteln. Das ist denn auch ein Hinweis darauf, wie wahrscheinlich ein EU-Beitritt der Türkei auf absehbare Zeit ist: Er ist praktisch ausgeschlossen.

von

Günter Schwarz – 30.11.2016