Josef Stalin, der am 05.März 1953 in Kunzewo bei Moskau verstarb und dessen Todestag sich am Montag zum 65. Mal jährt, zählt neben seinem deutschen Zeitgenossen Adolf Hitler zu den grauenvollsten Massenmördern der Geschichte. Die öffentliche Renaissance des Schlächters Stalin in Russland verdankt sich aber nicht seiner Person, sondern der Sehnsucht vieler Russen nach einer glorreichen Identität mit einer einst großen Sowjetunion.

Geboren wurde er am 18. Dezember 1878 als Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili als Sohn des Schuhmachers Bessarion Dschugaschwili aus Gori und Ketewan Geladse, Tochter eines Leibeigenen, in Georgien. Geschwister Stalins starben wenige Monate nach ihrer Geburt, so dass er als Einzelkind aufwuchs. Den „Kampfnamen“ Stalin, der nach verschiedenen Deutungen für „der Stählerne“ steht, nahm er 1912 an.

Das Familienleben war zunächst von Wohlstand geprägt, nachdem der Vater sich selbstständig gemacht hatte und zehn Arbeiter und verschiedene Lehrlinge beschäftigte. In den frühen 1880er Jahren soll er sich jedoch zum streitsüchtigen Alkoholiker entwickelt haben, der sein Vermögen nach und nach versoff und Frau und Sohn regelmäßig verprügelte.

Ein Jugendfreund Stalins schrieb später: „Diese unverdienten und schrecklichen Prügel machten den Jungen genauso hart und gefühllos wie seinen Vater.“ Er habe Stalin nie weinen sehen. Iosseb Iremaschwili, ein anderer Jugendfreund Stalins, schrieb, dass die Prügel auch einen Hass auf Autoritäten in Stalin hervorriefen, da jeder Mensch, der mehr Macht als er selbst gehabt hätte, ihn an seinen Vater erinnert habe. 1888 setzt sich Stalins Vater in die georgische Hauptstadt Tiflis ab und ließ seine Familie unversorgt zurück.

„Es war ein Ritual“, sagt Helmut Altrichter. Er ist emeritierter Professor für neuere und neuste Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg und hat eben eine neue Biographie zu Stalins Leben verfasst.

Wenn der innere Zirkel rund um den russischen Diktator Josef Stalin in Stalins Büro nach stundenlangen Diskussionen zu einem Ende kam, sah man sich im Kremlkino einen Film an. Danach dislozierte der Fünferkreis aus Stalin, Malenkow, Berija, Chruschtschow und Bulganin hinaus nach Kunzewo. In Stalins Datscha. Dort ließen es sich die Herren gut gehen, bis in die Morgenstunden.

Arterienverkalkung, Leberentzündung und Herzmuskelschwäche

Am letzten Februartag des Jahres 1953 sollte dieses Ritual zum letzten Mal stattfinden. Es ist ein Samstag, und am Sonntag darauf bleibt Stalin auf seinem Zimmer. Niemand seiner Entourage wagt es, den unberechenbaren Despoten zu stören. Erst am Abend dringt man schließlich in Stalins Gemächer vor.

Stalin liegt am Boden in einer Urinlache. Ein schwerer Schlaganfall hat einen der rücksichtslosesten Massenmörder der neusten Geschichte außer Gefecht gesetzt. Vier Tage später, am 5. März 1953, verstirbt Josef Stalin an den Folgen dieses Schlaganfalls. Wirklich tot ist der Sohn eines Schuhmachers aus Gori indes bis heute nicht.

Wer Stalins Vertrauen verlor, verlor oft auch das Leben

Über den Diktator mit Schnurrbart erscheint demnächst eine neue Biographie. Verfasst hat sie Helmut Altrichter. Altrichter berichtet über den Tod Stalins, die letzten Jahre davor und die darauffolgende Entstalinisierung. Und über die jetzige Tendenz, den großen Schlächter in gewisser Weise zu rehabilitieren.

In seinem Buch skizziert Altrichter einen Diktator, dem dessen Arterienverkalkung, Leberentzündung und Herzmuskelschwäche zunehmend zur Hypothek werden. Ein Diktator, der auf dem Höhepunkt seiner Macht den Tod von Millionen von russischen Bürgern zu verantworten hat und der nun gegen Ende seines Lebens nicht nur körperlich zerfällt.

Natürlich habe es niemand gewagt, Stalin mit seinem sichtbaren Zerfall zu konfrontieren, erklärt Altrichter. Einen Angelpunkt seiner Machtentfaltung bildet dabei sein grün gestrichenes Haus außerhalb von Moskau, seine Datscha.

Wer eine Einladung dorthin erhält, ist wohlgelitten. Wer nicht mehr hin darf, hat einen ernsthaften Grund, sich Sorgen zu machen. Fiel man bei Stalin in Ungnade, habe das schon auch den Tod bedeuten können, schildert Altrichter die Atmosphäre im damaligen Machtzirkel. Und am Ende gab es Anzeichen, wonach Stalin eine neue Säuberung der Parteispitze vorbereitete.

Die Gnade, dazu zu gehören

Dieser bestand aus dem Politbüro. Es zählte neun Mitglieder und zwei Kandidaten. Gegen Ende berief Stalin das Politbüro immer seltener formell ein. Stattdessen trifft er sich mit einem ausgewählten Zirkel. Die Beschlüsse dieser Fünfergruppe werden dem Büro lediglich noch kommuniziert.

In diesen Kreis informeller Herrschaft konnten Personen dazu genommen oder eben auch verbannt werden – je nachdem, ob sie Stalins Vertrauen gerade erlangten oder verloren. Ein eindrückliches Beispiel für letztere Variante sind Wjatscheslaw Molotow und dessen Frau Polina. Molotow wird von Stalin im März 1949 als Volkskommissar des Äußeren entlassen, weil seine jüdische Frau mit den israelischen Juden sympathisierte und Polina wird in das zentralasiatische Kustanai verbannt.

Zwischen tiefer Trauer und Suff

Die altgedienten Bolschewisten, Männer wie Molotow, die sich besonders am Ende ständig bedroht fühlen mussten, dürften über Stalins Tod erleichtert gewesen sein. „Zumindest mit einer gewissen Verzögerung“, sagt Altrichter. Zunächst hat aber wohl nach Stalins Ableben selbst bei Ausgestoßenen Entsetzen geherrscht.

Gleich nach Stalins Schlaganfall rätselten die eingeschüchterten Mitstreiter erst einmal um die Frage, wie sie überhaupt reagieren sollen. Erst als die Ärzte aufgrund der Schwere des Anfalls den baldigen Tod Stalins in Aussicht stellen, ringt sich der Machtzirkel zu Entscheidungen durch.

In der Bevölkerung wiederholen sich diese Reflexe im Großen und Ganzen. Weitum habe eine tiefe Trauer geherrscht, erklärt Altrichter. Und ein Bangen, wie es nun weitergehen könnte. Stalin ist in den Augen der Menschen ein Weltenlenker. Ein Macher, der sie im 2. Weltkrieg dank seiner forcierten Industrialisierung vor dem Untergang bewahrt und der ihnen danach den Weg zur Weltmacht geebnet hat.


Nikita Chruschtschow – hier 1960 vor der Uno – war nicht nur Mitwisser, sondern Mittäter.
Nikita Sergejewitsch Chruschtschow ist quasi Stalins Zögling. Altrichter ordnet Stalins Nachfolger den Mittätern stalinistischer Gräueltaten zu. Entgegen der Versuche, Chruschtschow zum bloßen Mitwisser zu entschärfen, erzählt der Historiker in seinem neuen Buch von einer entlarvenden Maßnahme.

Diese Maßnahme aus Stalins Hand mit der leicht unterkühlten Bezeichnung „Befehl 00447“ regelt, wie viele Personen im Rahmen der postrevolutionären Säuberungen pro Region erschossen bzw. in die Peripherie deportiert werden sollen. Der Befehl enthält eine Klausel, wonach ein Regionsverantwortlicher bezüglich der Kontingente einen Änderungs-Antrag stellen kann. Der Vorsteher der Region Moskau macht vom Antragsrecht Gebrauch und lässt die Todesquote von 5.000 auf 8.000 anheben. Der Verantwortliche heißt Nikita Chruschtschow.

Der gleiche Chruschtschow hält 1956 anlässlich des 20. Parteitages eine etwa fünfstündige Rede. Darin demontiert er dann Stalin als einen Verbrecher.
Stalin wird einfach aus der Geschichte ausgeblendet

Chruschtschow stürzt in der sogenannten „Geheimrede“ seinen Ziehvater vom Sockel. Er macht ihn für alle Folgen der Säuberungen in den 30er-Jahren verantwortlich. Die Misere führt Chruschtschow auf den Personenkult rund um Stalin zurück. Irrungen, die nach Ansicht Chruschtschows zu Verwerfungen im politischen System geführt hätten.

Bei seiner Kritik blendet Chruschtschow die Partei freilich aus. Deren große Entscheide bleiben unantastbar. Revolution und Bürgerkrieg sind sakrosankt. Ebenso die Kollektivierung und die forcierte Industrialisierung mit ihren Hunderttausenden von Hungertoten.

Und schließlich beklagt Chruschtschow in seiner Parteitag-Rede auch nur Stalins Säuberungen im russischen Polit-Apparat, im Staat und in der Wirtschaftselite. Die Deportationen und Erschießungen unter der Bevölkerung, namentlich unter den russischen Bauern, sind für Chruschtschow kaum ein Thema.

Rehabilitierung durch die Hintertür

Bis zur Ablösung Chruschtschows 1964 wird Stalin aus der Geschichte ausgeblendet, wie man seinerzeit Trotzki ausgeblendet hat. Eine neue Milde erfährt der verstorbene Despot erst mit der Machtübernahme Leonid Brechnews 1969. Das Stalin-Museum in Georgien darf wieder geöffnet werden. Stalins Grab – zuvor von Chruschtschow aus dem Lenin-Mausoleum an die Kremlmauer verbannt – wird mit einer Büste aufgewertet.

Für Altrichter ist das eine Rehabilitation auf Umwegen. Für Breschnew sei die große russische Erzählung zentral gewesen. Unter dem Strich wird die Erzählung von der Ansicht getragen, wonach es ohne die Bolschewiken keine Oktober-Revolution gegeben hätte, ohne Revolution keine Kollektivierung und keine forcierte Industrialisierung, und ohne Industriestaat kein Überleben im Zweiten Weltkrieg und keinen Aufstieg zur Weltmacht.

„Weil die Erinnerung an den Weltkrieg von der Person Stalins nicht zu trennen ist, kommt er dann über diese Hintertür wieder herein“, erklärt der Historiker. Dieser Schleichweg hat sich bis heute gehalten. Für viele Russen existiert heute eine Art Phantom-Schmerz. Ein Schmerz über den Niedergang der Sowjetunion.

Dabei sehnt man sich aber nicht nach der Zeit selber zurück, sondern nur nach der Größe Russlands in dieser Zeit. So hofft man allenthalben, durch einen Schulterschluss mit der Geschichte dereinst vielleicht wieder an diese Zeiten anschließen zu können.


Die aktuelle Zuneigung zu Stalin verdankt sich der Sehnsucht nach alter Größe.</center
Und in dieser Erinnerungskultur ist es eben Stalin gewesen, der dieses riesige, arme Land zu einem Industriestaat, zu einer Weltmacht, geschmiedet hat. Ein historisches Erbe, mit dem nach Ansicht Altrichters auch Putin liebäugelt. Allerdings ist die Beziehung von Putin und Stalin kompliziert.

Bei seinem Machtantritt im Jahr 1999/2000 war das Land von einer Zweiteilung gezeichnet: die Reformer auf der einen Seite, die traditionellen Kommunisten auf der anderen. Putins Traum besteht in der Versöhnung beider Lager. Viele seiner innenpolitischen Maßnahmen sind bezeichnend dafür.

Aber auch Putins heutige Aussenpolitik müsse unter diesem Gesichtspunkt interpretiert werden, verlangt Altrichter. „Das, was Putin auf der Krim oder in der Ukraine macht, ist letztlich der gleiche Versuch, einen Schulterschluss zwischen Tradition und Moderne zu erzielen.“

Man versucht auf der einen Seite, die nationalen Gefühle zu mobilisieren. Auf der anderen verhindert man die Perspektive, wonach die Einmischungen auf das Erbe der Sowjetunion verweisen. Sie sind nach Putins Auslegung dem historischen Russland geschuldet.

„Die Beziehung zwischen Putin und Stalin ist kompliziert“, schließt Altrichter seine Erläuterungen. Genauso kompliziert wie das gesamte Verhältnis der Menschen zu ihrer Geschichte. Ein Verhältnis, das derzeit wieder mit viel Deutlichkeit ausgehandelt wird.

Stalinismus

Stalins Regime und seine Interpretationen des Marxismus und des Leninismus erhielten die Bezeichnung Stalinismus. Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion wirkt die rund 30-jährige Glorifizierung Stalins durch einen in der sowjetischen Geschichte einzigartigen Personenkult bis heute nach. Zwar leitete nach Stalins Tod sein Nachfolger Nikita Chruschtschow mit der Entstalinisierung eine öffentliche Abrechnung mit Stalins Person und Wirken ein, die von späteren Regierungen jedoch nicht fortgeführt und teilweise sogar zurückgenommen wurde.

Im März 2016 ergab eine Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Lewada-Zentrum zur Einstellung der befragten Einwohner Russlands zu Stalin: 37 % positiv, 32 % gleichgültig, 17 % negativ, 14 % keine Angabe.

von

Günter Schwarz – 03.03.2018