Minderheitenkongress in Wroclaw
Minderheitenvertreter der FUEN (Föderative Union Europäischer Volksgruppen) aus dem gesamten Raum der EU kommen derzeit vom 18. bis 22.05.2016 in der oberschlesischen Stadt Wroclaw (vormals Breslau) zusammen, um über die Situation und Probleme der einzelnen Minderheiten in nahezu allen Mitgliedsstaaten der EU zu beraten und gegebenenfalls Lösungen zu erarbeiten, die direkt und unmittelbar die Menschen erreichen, die aufgrund ihres „Andersseins“ oftmals benachteiligt und gar ausgegrenzt werden.
Der zunehmende Nationalismus in nahezu allen Staaten Europas, der darüberhinaus durch den unerwartet großen Zustrom von Flüchtlingen aus Syrien, aus dem Irak und aus vielen anderen Staaten der Nahostregion und dem nördlichen Afrika noch zusätzlichen Auftrieb bekommen hat, ist ein weiteres Problem. Nachdem die EU-Kommission in Brüssel zudem das „Minority Safepack“ und somit die Verankerung der Minderheitenrechte und -politik auf überstaatlicher Ebene zurückgewiesen hat, sind die Minoritäten nach wie vor einzig und allein auf den guten Willen ihrer nationalen Regierungen angewiesen. Und dieser „gute Wille“ ist in den einzelnen europäischen Staaten doch recht unterschiedlich ausgeprägt und teilweise noch nicht einmal ansatzweise vorhanden.
Als wichtiger Partner der FUEN hat sich deshalb die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE, herauskristallisiert. Deutschland hat den OSZE-Vorsitz 2016, und somit obliegt dem Land die Aufgabe, die Zielsetzungen der Organisation umzusetzen, in denen es unter anderem heißt, es solle „die Situation von Minderheiten in Zeiten von Krisen sowie ihr positiver Beitrag zu gesellschaftlicher Integration und ihr brückenbildendes Potential in zwischenstaatlichen Beziehungen im Fokus stehen“.
Der scheidende FUEN-Präsident Hans Heinrich Hansen aus Nordschleswig, der der deutschen Minderheit in Dänemark angehört, betonte in seiner Rede, Dänemark und Deutschland seien „kein bisschen besser als die anderen Länder in Europa“, wenn es um Minderheiten gehe, auch wenn es nördlich Grenze mit der deutschen Minderheit in Dänemark und südlich von ihr mit der dänischen Minderheit in Deutschland auf den ersten Blick so aussehe. Die gute und entspannte Situation, so wie sie sich jetzt darstellt, die auf dem Kongress immer wieder als Vorbild herhält und die Renate Schnack aus Sicht der Landesregierung Schleswig-Holsteins schilderte, sei in ihrem Ursprung nichts anderes als ein „Abfallprodukt der Nato-Beitrittsverhandlungen“ von 1954/55 zwischen Dänemark und Deutschland – den „Bonn-Kopenhagener Erklärungen“ vom 28. März 1955.
Von einer guten Situation, die derzeit mit der deutschen Minderheit in Dänemark oder der dänischen, friesischen, sorbischen Minderheit in Deutschland nur annähernd vergleichbar ist, können die meisten anderen Minderheiten in Europa derweil allerdings nur träumen. Überaus eindrucksvoll schilderten Vertreter vom ganzen Kontinent, wie ihre Volksgruppen unter Ignoranz, Schikane bis hin zu offener Ablehnung von Regierungsseite zu leiden hätten. Ohne die Verankerung in der EU haben die Minderheiten ein schier unüberwindliches Problem, erläuterte Grzegorsz Janusz, polnischer Politikwissenschaftler und Minderheitenexperte: „Selbst ein totalitärer Staat wie Weißrussland erfüllt alle Grundlagen der Minderheiten-Rechtsnormen, wie sie auch in der EU gelten. Doch durch diese Grundlagen ist ja noch längst nicht alles so, wie es sein sollte. So werden zum Beispiel Rechtsentscheide willkürlich nach dem Motto ‚Euch werden wir’s schon zeigen!‘ getroffen.“ Die Zivilgesellschaften, so Janusz, zum Beispiel in Polen, neigten immer mehr dazu, den nationalen Werten den Vorrang zu geben und Ressentiments gegen nationale und religiöse Minderheiten auszuleben. In diesem Zusammenhang ergriff auch Hans Heinrich Hansen wieder das Wort und nahm kein Blatt vor den Mund, indem er die polnische Politik scharf wegen ihrer Weigerung kritisierte, einerseits keine Flüchtlinge aufzunehmen zu wollen und andererseits Europafahnen durch polnische Flaggen zu ersetzen.
Am Beispiel Estlands wurde auf die staatenlose russischsprachige Minderheit hingewiesen, deren Mitgliedern die Staatsbürgerschaft und somit die Beschäftigung im öffentlichen Dienst verweigert wird, wenn sie keine Staatsbürgerschaftsprüfung inklusive einem mehrstündigem Sprachtest in Estnisch ablegten. Auch aus Kroatien kam großes Bedauern über das Scheitern des Minority Safepacks, um das derzeit noch vor dem Europäischen Gerichtshof gestritten wird. 22 Minderheiten leben in Kroatien, wovon selbst die größte Minderheit der Serben keine eigene Schule betreiben darf, und es ist ihr sogar nicht gestattet, die eigene Muttersprache öffentlich zu verwenden. „Wenn es euch hier nicht gefällt – der Weg ist frei, woanders hinzuziehen“, soll der Regierungssekretär der rechtspopulistischen Regierung in Kroatien den Serben, die selbst in mehrheitlich serbischen Orten nicht im öffentlichen Dienst beschäftigt werden, kürzlich gesagt haben.
Mit den wohl heftigsten Repressionen müssen weiterhin die Sinti und Roma in Europa leben – und, so berichtete der Zentralrat der Sinti und Roma aus Deutschland, die Ausschreitungen und Übergriffe nehmen zu. Dies sei auch auf die zunehmend harte und teils rassistische Rhetorik von Politikern in ganz Europa zurückzuführen, und darüber hinaus sei der Antiziganismus bis tief in die gesellschaftliche Mitte verankert. Nur das deutsche Bundesland Schleswig-Holstein hat als „Vorreiter“ bislang Roma und Sinti unter den Schutz der Landesverfassung gestellt. Seit dem Regierungswechsel 2012 und einem von der SPD-Grünen-SSW-Regierung durchgebrachten Gesetz haben sie nun wie die Dänen und Friesen ebenfalls Anspruch auf Schutz und Förderung durch das Land.
Der Nationalismus kann und wird keine Lösung in einer Welt sein, die immer enger miteinander vernetzt ist, auch nur eines der bestehenden Probleme Europas zu lösen. Aber die scheinbare Schwäche der Minderheiten könnte Europa dazu verhelfen, Dinge besser zu verstehen, die andere aus der vermeintlichen Position der Stärke heraus nicht verstehen können oder wollen. Minderheiten sind durchaus in der Lage, die politischen Krisen Europas lösen zu helfen denn ALLE europäischen Staaten müssten sich heute mit der Flüchtlingssituation beschäftigen und einsehen, dass es für kein Land eine einfache Lösung gibt, wie sie aus nationalen Kreisen stets wiederkehrend lauthals propagiert wird. So löst man kein Problem – so schafft man sich nur neue und größere!
von
Günter Schwarz – 21.05.2016
Foto: Sven Bohde