Europäer sind mit ihren Krisen überfordert
Europa schlittert von einer Krise in die nächste: Flüchtlingsdramen, Fremdenhass, Angst vor Reformen und Euro-Krise. Was ist aus dem Traum von Europa geworden?
Europäische Wohlstandsgesellschaften sind arglos und anmaßend geworden. In Frankreich wird gegen jegliche Reformen gestreikt, als wären sie Teufelswerk. Spanien verharrt im Patt. Deutschland und Skandinavien erleben einen massiven Rechtsdruck. Europäische Einheit sähe anders aus.
Im Jahre 1977 prognostiziert der französische Soziologe Raymond Aron in seinem Buch »Plädoyer für das dekadente Europa« den Zustand von Wohlstandsgesellschaften, die das Vertrauen in sich selbst verlieren. Menschen, welche das westliche Gesellschaftssystem für überflüssig halten. Eine wachsende Zahl von Europäern, die aus einem Minderwertigkeitsgefühl heraus die repräsentative Demokratie abschaffen wollen.
Den Europäern fehle das Bewusstsein für Krisen, führt Aron aus und trifft damit den aktuellen Zustand: Wirtschaftlich ist die Euro-Krise immer noch nicht gebannt, humanitär sind die europäischen Regierungen überfordert mit einem menschenwürdigen Umgang mit Flüchtlingen und die politische Gruppe der europäischen Europa-Gegner wächst und wächst.
In Deutschland und Skandinavien flammt längst vergessen geglaubter Fremdenhass wieder auf. Die Anzahl der Übergriffe mit fremdenfeindlichen Motiven hat bereits in den ersten sechs Monaten dieses Jahres mit 202 Delikten die Anzahl des gesamten Jahres 2014 erreicht. Und auch 2014 war schon ein trauriges Rekordjahr. Für 2015 rechnet das BAMF deutschlandweit mit 450.000 Erstanträgen auf Asyl. Das wären doppelt so viele wie 2014 und achtmal so viele wie noch 2010. Eine armselige Anzahl: Es gibt mehr als 3,5 Millionen Flüchtlinge in Jordanien, in der Türkei und dem Libanon, Länder die weitaus weniger wohlhabend sind als die europäischen Nationen.
Die ursprüngliche Idee von Europa war Frieden und wirtschaftlicher Wohlstand. Beide Ziele sind nach wie vor erfolgreich. Gleichzeitig werden aber diese Errungenschaften von den Bürgern Europas als selbstverständlich angesehen. Sie treten im Bewusstsein in den Hintergrund und dafür treten die aktuellen Krisen wie die Euro-Krise und die Flüchtlingsdebatte in den Vordergrund – insbesondere, wenn diese durch andauernde zankende Parteien angestachelt werden.
Wenn Europas Gesellschaften an sich selbst zu zweifeln beginnen und das Interesse an einer gemeinsamen Zukunft verlieren, dann sprechen sie sich selbst das Todesurteil aus.
von
Line Holm – 07.06.2016
Darüber, dass die Europäer generell mit ihren Krisen wrklich überfordert sind, möchte ich nicht urteilen, aber ich fürchte, viele Regierungen der EU-Staaten sind es, denn sie verhalten sich in ihrer Regierungsarbeit so, als existierte die Europäische Union für sie gar nicht – jedenfalls nicht dann, wenn es darum geht, Pflichten zu übernehmen, die so eine Staatengemeinschaft mit sich bringt.
Sie regieren nach wie vor so, als regierten sie selbstherlich „ihr kleines Fürstentum“ ganz souverän und bedenken dabei nicht, dass sie einen Teil ihrer Souveränität mit dem Beitritt zur Union an Brüssel abgegeben haben. Sie denken nach wie vor in Zeiten voneinander unabhängiger Nationalstaaten und erinnern sich bestenfalss an die Union, wenn es Gelder zu verteilen gibt. – Dann sind sie an erster Stelle und in vorderster Front da!
Gut, die Europäische Union ist für den Laien und für den „Normalbürger“ eines jeden Mitgliedslandes ein schwer zu durchschauendes und oft nicht zu verstehendes Konstrukt. Isofern sei jenen Bürgern verziehen, die aus Unwissenheit, die man auch als Dummheit bezeichen könnte, sich nach „einfachen Strukturen“ zurücksehnen und von daher sich wieder ihre Nationalstaaten wünschen und rechten „Rattenfängern“ nachlaufen, die vermeintlich jedes Problem mit einem möglichst einfachen Schlagwort zu lösen imstande sind.
Hier aber setzt die Verantwortung aller Regierungen an, denn sie müssen sich endlich dazu durchringen, ihren Völkern endlich den „Sinn oder auch Unsinn“ ihrer Regierungsarbeit so verständlich zu machen, dass auch „Otto Normaldenker“ die Sprache und auch den Sinn der Worte versteht.
Zusätzlich sei den Politikern allerdings auch geraten, gemeinsam darüber nachzudenken, die Arbeit des Europäischen Parlaments, der Europäischen Kommission, den Rat der Europäischen Union, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialsausschuss, den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft, den Europäischen Rechnungshof, den Europäischen Bürgerbeauftragten, den Europäischen Datenschutzbeauftragten und den Ausschuss der Regionen etwas besser zu erklären und darüber hinaus die Arbeit dieser Europäischen Institutionen so transparent zu gestalten, dass diese Eingang im Selbstverständnis eines jeden Bürgers finden und jeder einzelne EU-Bürger „weiß, worum es geht“!