Die Zeit läuft und läuft und läuft…: In sechs Tagen, am Donnerstag kommender Woche, am 23. Juni, stimmt Großbritannien über den Verbleib in der EU ab. Diese historische, erstmalige und entscheidende Abstimmung unter dem Kunstwort „Brexit“ wirft Fragen auf, die nicht nur in Brüssel beantwortet werden können, denn sie betreffen alle Europäer und werden für die ganze EU von entscheidender Bedeutung sein, wie auch immer die Abstimmung in Großbritannien ausgehen mag.

Befürworter und Gegner führen einen überaus harten Wahlkampf mit allen Mitteln, der gestern sogar zum Tod der Labour-Abgeordneten und EU Befürworterin Jo Cox (41) führte, die sich in ihrem nordenglischen Wahlkreis nahe Leeds zu einer Wahlveranstaltung aufhielt und auf offener Straße von einem 52-jährigen „Brexit-Irren“ mit den Worten „Britain First (Großbritannien zuerst)“ angegriffen und wahrscheinlich durch einen Messerstich tödlich verletzt wurde.


Jo Cox †
Daraufhin sagten alle Parteien im ganzen Land – sowohl Befürworter als auch EU-Gegner – alle weiteren Veranstaltungen gestern und heute ab.

Dennoch wird am Donnerstag, den 23. Juni, in Großbritannien abgestimmt – und dabei geht es um nichts weniger als den Verbleib des Staates in der Europäischen Union. Die Abstimmung ist historisch, denn bislang hat noch kein anderes Land der EU sein Volk vor diese Wahl gestellt. Schon lange warnen Unternehmer und Ökonomen vor den wirtschaftlichen Folgen eines Brexits auch auf die übrigen EU-Staaten; die Austritts-Befürworter argumentieren dagegen mit Freiheiten, die sich böten, da sich Händler, Industrie und Landwirtschaft nicht länger an teilweise unsinnige EU-Regularien halten müssten.

Doch welche Auswirkungen sind wirklich zu befürchten? Und würde man künftig ein Visum brauchen, wenn man nach London fahren möchte? Fragen und Antworten zur Abstimmung in der Übersicht.

Warum stimmen die Briten über die EU-Mitgliedschaft ab?

Das Referendum ist eng mit dem Namen David Cameron verbunden. Der „Tory-Premier“ löst damit ein Versprechen aus dem Jahr 2013 ein, das zu einem Gutteil innenpolitisch motiviert war. Forderungen danach kamen nicht zuletzt aus den Reihen seiner eigenen konservativen Partei. Aber auch das Erstarken der euroskeptischen UKIP auf der Insel spielte eine wesentliche Rolle. Zuletzt stimmten die Briten 1975 über eine Mitgliedschaft in der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ab. Seitdem habe sich die Gemeinschaft so stark verändert, dass sie mit den ursprünglichen Beitrittsbedingungen kaum noch etwas gemein hat, so die Begründung für das Referendum.

Woher kommt eigentlich der Begriff Brexit?

Brexit ist ein Kunstwort aus Britain und Exit. Es bezeichnet einen Austritt Großbritanniens aus der EU und ist nach dem Vorbild eines Grexit geprägt. Dieser Begriff für ein Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone entstand auf dem Höhepunkt der Griechenland-Krise und wird dem Citigroup-Ökonomen Ebrahim Rahbari zugeschrieben. Der griffige Ausdruck Brexit ist wie geschaffen für soziale Medien. Das Wort „Bremain“ – das einen Verbleib Großbritannien in der EU bezeichnet, konnte sich dagegen nicht durchsetzen.

Was sind die Argumente der Brexit-Befürworter, was die der Gegner?

Pro: Befürworter eines Brexits wie der ehemalige Bürgermeister Londons, Boris Johnson, argumentieren, dass Großbritannien als drittgrößter Nettozahler in der Union ein Verlustgeschäft mache. Ein weiteres Argument ist die Kontrolle über seine Grenzen. Unionsbürger haben das Recht, sich im Königreich niederzulassen. Derzeit leben und arbeiten dort mehr als zwei Millionen Menschen aus anderen EU-Ländern. Sie belasten angeblich die sozialen Sicherungssysteme – Studien widerlegen dieses jedoch. Die in den Augen vieler Briten ausufernde Regulierung durch Brüssel sorgt zudem für Unmut in der Bevölkerung.

Brexit-Befürworter halten die EU außerdem für nicht ausreichend demokratisch legitimiert und fordern die Rückbesinnung auf nationale Souveränität.

Contra: Die Gegner eines Austritts warnen in erster Linie vor wirtschaftlichen Konsequenzen. Einem Gutachten des britischen Finanzministeriums zufolge würde ein Brexit jeden Haushalt in Großbritannien 4300 Pfund pro Jahr kosten. Der Grund: Das Land müsste neue Freihandelsabkommen abschließen, Investitionen aus Drittstaaten könnten zurückfließen, und Banken könnten nach Kontinentaleuropa abwandern. Die Folge wäre eine Rezession.

Wird Schottland sich abspalten, falls es zum Brexit kommt?

Umfragen zeigen, dass etwa zwei Drittel der Schotten in der EU bleiben wollen. Die Frage ist eng mit der nach einer schottischen Unabhängigkeit verknüpft. Im Falle eines Brexits könnte es zu einer zweiten Volksabstimmung um eine Abspaltung Schottlands vom Vereinigten Königreich (UK) kommen, kündigte Regierungschefin Nicola Sturgeon an. Ein erstes Referendum zur Unabhängigkeit vom 18. September 2014 scheiterte mit 55,3 Prozent Nein-Stimmen und 44,7Prozent Ja-Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 84,59 Prozent.

Irlands Premierminister Enda Kenny befürchtet eine Ansteckungsgefahr, sollte die britische Wirtschaft infolge eines Brexits schrumpfen. Nach den USA ist das Vereinigte Königreich der größte Importeur irischer Waren. Ein Drittel aller Importe nach Irland stammt aus Großbritannien. Spekuliert wird auch, dass es wieder zu Grenzkontrollen zwischen Nordirland und der Republik Irland kommen könnte.

Wie wichtig ist UK für Deutschland als Handelspartner?

Großbritannien ist Deutschlands drittgrößter Exportmarkt. Im vergangenen Jahr verkauften deutsche Unternehmen Waren im Wert von 90 Milliarden Euro in das Königreich. Trotzdem hält der Geschäftsführer der deutsch-britischen Außenhandelskammer (AHK), Ulrich Hoppe, die Gefahr für überschaubar. Dass es bei einem Brexit zu Zöllen oder Einfuhrbeschränkungen kommt, glaubt er nicht. Mehr Auswirkungen könnten langfristig andere Handelshemmnisse haben, beispielsweise unterschiedliche Standards in der Produktsicherheit. Doch auch hier habe Großbritannien mehr Schaden zu befürchten als Deutschland.

Was denkt Londons City, was würde aus dem britischen Pfund?

Die Folgen eines Brexits für den Finanzplatz London – die City – sind unter Experten wie Bankern umstritten. Eine Seite beschwört bereits den Untergang der Londoner City für den Austrittsfall, andere sagen ihr eine goldene Zukunft voraus, fernab von lästigen EU-Vorschriften.

Befürchtet wird vor allem, dass zum Beispiel US-Banken nach Paris oder Frankfurt abwandern könnten, um ihre Finanzprodukte weiterhin ungehindert in EU-Staaten verkaufen zu können. Zudem könnte die Europäische Zentralbank (EZB) versuchen, den lukrativen Devisenhandel mit dem Euro aus London abzuziehen. Das britische Pfund würde wohl zumindest kurzfristig an Wert verlieren.

Was schätzt die EU am ewigen Quertreiber UK?

Die EU ist durch die – nicht zuletzt von Großbritannien vorangetriebene – Erweiterung ein vielstimmiges Orchester geworden.

Arme Länder haben andere Interessen als stark industrialisierte, neue Staaten andere als etablierte, südliche andere als nördliche. Für die Kernländer Deutschland und Frankreich ist Großbritannien trotz aller Unterschiede und Widerstände vor diesem Hintergrund ein Partner, der zwar selten als verlässlich angesehen wird, aber zumindest außen- und haushaltspolitisch ähnliche Grundinteressen vertritt. Außerdem wird Großbritanniens Funktion als diplomatische Atlantik-Brücke in die USA geschätzt.
Würde ein Austritt Großbritanniens einen Dominoeffekt bewirken?

Das ist die große Befürchtung in Brüssel. Ob es dazu kommen würde, ist offen. Tatsache ist: In vielen Ländern haben antieuropäische Strömungen zuletzt viel Zulauf bekommen. Die Bewegungen der Nationalistin Marie Le Pen etwa in Frankreich, der Populisten von Geert Wilders in den Niederlanden, der FPÖ in Österreich und die der neuen Rechten unter der AfD in Deutschland, die zunehmend an Zulauf gewinnen, lassen nichts Gutes erwarten.

In der europäischen Bevölkerung ist die Skepsis gegenüber Brüssel nach Umfragen groß. Auch wenn es nicht gleich zu Austritten kommt: Die Forderungen vieler Länder an Brüssel könnten mit der Androhung von Austritten viel mehr Nachdruck erhalten. Eine Umfrage des Instituts Ipsos in neun großen EU-Ländern hat ergeben, dass die Ansteckungsgefahr eines Brexit allgemein als hoch angesehen wird.
Was könnten Folgen für die Sicherheit sein?

Auch die nationale Sicherheit sehen die Brexit-Gegner in Gefahr. Polizei- und Geheimdienstinformationen könnten nicht mehr so leicht ausgetauscht werden wie bisher. Dieses könnte angesichts der starken Dienste in Großbritannien auch Informationsverluste für Europa – etwa im Kampf gegen den Terror – bedeuten. Auch der Europäische Haftbefehl, der die Übergabe von mutmaßlichen Tätern regelt, die in ein anderes EU-Land geflohen sind, würde möglicherweise außer Kraft gesetzt.

Militärische Folgen sind dagegen kaum zu befürchten. Großbritannien als Atommacht und enger Verbündeter der USA lehnt eine militärische Zusammenarbeit auf EU-Ebene ohnehin weitgehend ab.

Kommentatoren sehen aber für solche Abschottungsbestrebungen auch Grenzen: „Großbritannien ist historisch und geografisch eng mit dem Kontinent verknüpft“, sagt etwa Nick Witney, früher Chef der Europäischen Verteidigungsagentur (EVA).

Brauchen Europäer künftig ein Visum, wenn sie nach London wollen?

Das ist für die meisten EU-Länder nahezu auszuschließen. Dennoch: Es müssten Einzelfallregelungen mit jedem Land zur Visumfreiheit geschlossen werden. Betroffen könnten auch Regelungen sein, die die EU mit Drittländern, aktuell gerade mit der Türkei, abzuschließen beabsichtigt. Sie würden dann möglicherweise nicht mehr für Großbritannien gelten. Allerdings ist davon auszugehen, dass die Briten Übergangsfristen gelten lassen würden. Großbritannien hatte 2004 bewusst mehr Osteuropäer ins Land gelassen als viele andere EU-Länder, weil Arbeiter benötigt wurden. Harte Regelungen nach einem Brexit würde ganze Branchen, etwa in der Hotellerie oder auf dem Bau, ausbluten lassen. Daran hat Großbritannien, das einen riesigen Investitionsstau im Hoch- und Tiefbau hat, kein Interesse. Allerdings warnt Dominic Raab, eine der führenden Pro-Brexit-Figuren: „Briten könnten künftig für Reisen nach Europa ein Visum benötigen.“

Was ist für Großbritannien die Alternative zur EU?

Die Briten glauben, sie können sich künftig stärker an außereuropäische Länder binden. Die besondere Verbindung zu den USA spielt dabei eine Rolle, aber auch die Erinnerung an vergangene Großmacht-Zeiten als Kopf des British Empire. Dessen Überbleibsel ist der Commonwealth of Nations, mit vielen kleinen, unbedeutenden Mitgliedern, aber auch aufstrebenden Wirtschaftsmächten wie Indien. Gerade bei den Millionen von indischen Zuwanderern und ihren inzwischen britischen Nachfahren ist die Lust am EU-Ausstieg groß. „Der Brexit hat seine Wurzeln im britischen Empire“, schreibt etwa der „New Statesman“.

Es wird deutlich: Die Debatte spaltet die britische Gesellschaft, Regierung und Parteien. Hier die führenden Köpfe des Streits, ihre Strategien und ihre wichtigsten Argumente:

David Cameron


Der britische Premier David Cameron
Der britische Premierminister spielt mit dem Feuer. Die Idee eines Referendums brachte er ins Spiel, um seine Gegner und EU-Kritiker in der konservativen Partei ruhigzustellen. Bewusst definierte der 49-Jährige den Zeitraum anfangs eher vage, spätestens bis Ende 2017 solle abgestimmt werden, kündigte er vor der Parlamentswahl im Mai 2015 an. Öffentlich gab sich Cameron zunächst sehr EU-kritisch und forderte die Gemeinschaft mehrfach zu Reformen auf.

Beim EU-Gipfel im Februar verkündete er einen Durchbruch. Vor allem beim Thema EU-Einwanderer habe er sich durchgesetzt. Über Nacht wurde Cameron zum EU-Fan. Ein Austritt würde die Wirtschaft und die Sicherheit des Landes gefährden, sagt er nun. Zugleich drückt er aufs Tempo und legte als Termin für das Referendum den 23. Juni fest: Er fürchtet, eine erneute europäische Flüchtlingskrise oder neue Euro-Turbulenzen könnten Wasser auf den Mühlen seiner Gegner sein. Insider meinen, falls der Brexit kommt, bleibe Cameron nur der Rücktritt.

Boris Johnson


Londos Ex-Bürgermeister Boris Johnson
Nach Ansicht von Boris Johnson hat die EU katastrophale Fehler begangen.

Der frühere Londoner Bürgermeister hat sich erfolgreich als Galionsfigur der Austrittsbefürworter etabliert – und ist zum direkten Gegenspieler Camerons avanciert. Der rhetorisch begabte Populist, der wenige Tage vor dem Referendum seinen 52. Geburtstag feiern kann, ist ein Freund verbaler Zuspitzung und Provokationen. Jüngstes Beispiel ist seine Behauptung, die EU wolle den Superstaat – wie einst Napoleon und Hitler. Dafür erntete er zwar reichlich Kritik, doch der Mann mit den markanten weiß-blonden Haaren ist bei den Briten populär. Einer jüngsten Umfrage zufolge halten ihn viele Briten sogar für glaubwürdiger als Cameron.

Brexit-Warnungen internationaler Organisationen wie etwa des Internationalen Währungsfonds IWF hält er für reine Angstmache. Ein EU-Austritt würde dem Londoner Parlament endlich seine Souveränität zurückgeben. Außerdem würden Mega-Zahlungen an Brüssel wegfallen. Doch Beobachter in London meinen, letztlich gehe es Johnson mehr darum, Cameron zu beerben. Sollte das Austritts-Lager gewinnen, steigen seine Karriere-Chancen beträchtlich. Doch auch wenn es scheitern sollte, könnte Johnson gewinnen: Cameron könnte dann seinen Gegnern „Brücken bauen“ – und Johnson ins Kabinett holen.

Nicola Sturgeon


Schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon
Die 45 Jahre alte schottische Regierungschefin hat vor allem ein Ziel – Unabhängigkeit von London. Im vergangenen Jahr ist sie damit bei einem Referendum knapp gescheitert. Doch die Schotten sind zugleich mehrheitlich EU-Fans. Sollte London die EU tatsächlich verlassen, würde das den schottischen Unabhängigkeitsbestrebungen erheblich Auftrieb verleihen. Für diesen Fall spekuliert Sturgeon mit einem zweiten Unabhängigkeitsvotum.

Jeremy Corbyn


Jeremy Corbyn
Ein waschechter EU-Fan ist auch der linke Labour-Chef nicht. In der Vergangenheit reihte er sich eher unter den Gemeinschafts-Skeptikern ein. Auch jetzt spricht er von Mängeln und Schwächen der Union. Doch es gebe keine Alternative: Man könne die EU nur reformieren und verbessern, wenn man dabei sei. Daher kämpft Corbyn jetzt für den Verbleib. Doch er ist angeschlagen, jüngst musste Labour bei Regional- und Kommunalwahlen Schlappen einstecken.

Nigel Farage


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Brexit-Befürwörter wie UKIP-Chef Nigel Farage sehnen einen Ausstieg Großbritanniens aus der EU herbei.

Der Chef der rechtspopulistischen UKIP-Partei gilt vielen als „Mr. Brexit“, ein Austrittskämpfer der ersten Stunde. Zunächst war er bei den Konservativen, doch als London 1992 dem Maastricht-Vertrag beitrat, verließ er die Partei und gründete UKIP. Die EU und Immigration sind die Leib- und Magenthemen des begabten Rhetorikers, der ebenfalls keine Spitze scheut. Gegner werfen dem 52-Jährigen vor, er spiele mit der Angst. Bei der Parlamentswahl im Mai 2015 gewann die Partei zwar hinzu – wegen des Mehrheitswahlrechts brachte sie aber nur einen Abgeordneten ins Parlament. Farage ist stets für eine Überraschung gut, jüngst brachte er etwa die Idee eines zweiten Referendums ins Spiel – falls die EU-Befürworter am 23. Juni knapp gewinnen sollten.

Großbritannien: Zahlen und Fakten

Einwohner: 64,6 Millionen (Stand: Juni 2015)
Bevölkerungverteilung: England 84,1 %; Wales 4,78 %; Schottland 8,27 %; Nordirland 2,85 % (Stand: Juni 2015)
Fläche: 243.820 Quadratkilometer (gut zwei Drittel der Fläche Deutschlands)
Landessprachen: Englisch, Walisisch, Gälisch
Hauptstadt: London – etwa 8,6 Millionen Einwohner (Stand: März 2016)
Regierungschef: David Cameron, seit Mai 2010
Staatsoberhaupt: Queen Elizabeth II., seit 1952
Staatsform: Parlamentarische Monarchie
Bruttoinlandsprodukt je Einwohner: 39.500 Euro (Deutschland: 37.100) (Stand 2015)
Erwerbslosenqutoe bei 20- bis 64-Jährigen: 4,6 Prozent (Deutschland: 4,6) (Stand 2015)

von

Günter Schwarz – 17.06.2016