Lohnende Einbürgerungen
Vor zwei Jahren hat die Türkei an den Leichtathletik-EM in Zürich nur eine Bronzemedaille gewonnen. In Amsterdam gab es nun zwölf Medaillen. Wer jetzt annimmt, dass dieser Erfolgszuwachs der türkischen Sportler auf die „Blut- und Bodenpolitik des „großen“ und „weisen“ Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan zurückzuführen ist, der irrt gewaltig. Das türkische „Sportwunder“ heißt Einbürgerung! Bei dem „großen, weisen Mann“ der Türken hat sich wohl die Einsicht durchgesetzt, dass sogar das türkische Blut etwas Erneuerung bedarf, und somit haben sich die Einbürgerungen zumindest schon einmal auf dem sportlichen Sektor bewährt.
2 Medaillen hatte Russland vor zwei Jahren an den Leichtathletik-Europameisterschaften in Zürich gewonnen. In Amsterdam war die Grossnation vergangene Woche wegen zahlreicher Dopingvergehen ausgeschlossen. Also wurde der Anteil Russlands am Medaillenkuchen in den 44 Wettkämpfen auf andere Nationen verteilt. Polen (6 Gold, 5 Silber, 1 Bronze), Deutschland (5, 4, 7) und Grossbritannien (5, 3, 8) waren die erfolgreichsten Medaillensammler in Amsterdam.
Im 4. Rang jedoch taucht mit der Türkei (4, 5, 3) ein Verband auf, dessen Höhenflug nicht durch die Abwesenheit der Russen bedingt ist, sondern durch eine erfolgreiche «Transfer-Politik». Vor zwei Jahren lag die Ausbeute bei einer einzigen Bronzemedaille, nun ist der Staat an der Grenze der Kontinente eine europäische Leichtathletik-Macht.
In kurzer Zeit erhielt eine Vielzahl erfolgversprechender Athletinnen und Athleten – mehrheitlich aus Kenya – den türkischen Pass und die Freigabe durch die Sportverbände. Das krasseste Beispiel betrifft Aras Kaya, den EM-Zweiten über 3000 m Steeple. Der 22-jährige Kenyaner wurde am 14. Juni dieses Jahres eingebürgert und erhielt das Startrecht durch den Internationalen Leichtathletik-Verband am 4. Juli, zwei Tage vor Beginn der Titelkämpfe. Die 19-jährige Yasemin Can, Europameisterin über 5000 und 10 000 m, vertritt die Türkei seit einem Jahr an Sportanlässen; Kaan Kigen Özbilen, der hinter Tadesse Abraham, dem Schweizer mit eritreischen Wurzeln, Silber im Halbmarathon gewann, läuft ebenfalls erst seit einem Jahr für die Türkei.
Bloss 3 der 12 Medaillen wurden von Türkinnen und Türken gewonnen, die ihren Ursprung im Land am Bosporus haben. Sechs Medaillengewinner weisen einen kenyanischen Hintergrund auf, je einer einen jamaicanischen, einen kubanischen oder einen aserbaidschanischen. Fünf Podestplätze gehen auf Einbürgerungen zurück, die erst 2014 oder später erfolgt sind.
von
Günter Schwarz – 12.07.2016