Chaos in der Türkei: Offenbar befinden sich nun einige Militärchefs in der Hand der Putschisten. Nach dem offenbar gescheiterten Putsch-Versuch gegen Erdogan hat der vom Präsidenten ernannte neue Gerneralstabschef umfassende Säuberungen im Militär abgekündigt. Erdogan hat das Parlament zu einer Sondersitzung einberufen.

Der Putschversuch von Teilen der Armee in der Türkei hat nach offiziellen Angaben des Militärs mindestens 194 Menschen das Leben gekostet. Unter den Opfern seien auch 47 Zivilisten sowie 104 Putschisten, sagte der kommissarisch zum Militärchef ernannte General Ümit Dündar am Samstagmorgen. Es gebe zudem mehr als 1100 Verletzte, meldete die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu.

Von den Top-Militärs, die von den Putschisten als Geiseln genommen wurden, wurde nur Generalstabschef Hulusi Akar befreit. Die Aufenthaltsorte der anderen seien unbekannt, sagte der stellvertretende Stabschef Ümit Dündar am Samstag, wie die englischsprachige Ausgabe der Zeitung Hürriyet berichtet.

Präsident Recep Tayyip Erdogan zeigte sich nach einer chaotischen Nacht am Samstagmorgen in Istanbul aber siegesgewiss: «Die Türkei wird nicht vom Militär regiert», sagte er und kündigte an, das Militär «vollständig zu säubern». Ministerpräsident Binali Yildirim sagte, die Situation in dem Nato-Land sei weitgehend unter Kontrolle.

Regierungskreisen zufolge sind mehr als 1500 mutmaßliche Umstürzler aus den Reihen der Streitkräfte festgenommen worden. Fünf Generäle und 29 Oberste habe man ihrer Posten enthoben, hieß es am Samstagvormittag. Erdogan sagte, bei den Putschisten handele es sich um eine Minderheit in den Streitkräften. Die Operationen gegen sie im Armee-Hauptquartier in Ankara dauerten am Vormittag an.

Unter anderem in der Hauptstadt Ankara und in Istanbul hatte es Kämpfe und schwere Explosionen gegeben. Bei Luftangriffen der Putschisten auf das Parlament in Ankara wurde das Gebäude stark beschädigt. Einem Bericht des Senders CNN Türk zufolge gab es Gefechte zwischen Polizei und Militär. Die Armee habe die Polizeidirektion beschossen. Augenzeugen berichteten von Panzern in den Straßen der Hauptstadt. Yildirim hatte das Militär in der Nacht angewiesen, von den Putschisten gekaperte Flugzeuge abzuschießen.

Der Ministerpräsident bestellte alle Parteien für Samstagnachmittag zu einer Sondersitzung ins Parlament ein. Sowohl Erdogans islamisch-konservative Partei AKP als auch die drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien – CHP, MHP und die kurdische HDP – hatten sich gegen den Putschversuch gestellt. Die AKP hat seit 2002 jede Wahl in der Türkei gewonnen.

Die Bundesregierung, die Vereinten Nationen, die USA und die EU riefen zu Gewaltverzicht auf. Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg forderte Zurückhaltung und Respekt vor den demokratischen Institutionen. «Die Bundesregierung unterstützt die gewählte Regierung», sagte Regierungssprecher Steffen Seibert.

Das Auswärtige Amt riet allen Deutschen in Ankara und Istanbul zu «äußerster Vorsicht». Mehrere Fluggesellschaften strichen Türkei-Flüge. In den türkischen Ferienzentren war die Lage nach Angaben der Tui ruhig. Der Reiseveranstalter Thomas Cook forderte Urlauber auf, «vorsichtshalber bis auf weiteres in ihren Hotels zu bleiben».

In der Nacht hatten sich die Ereignisse in dem Land mit der zweitgrößten Nato-Streitmacht überschlagen. Am späten Freitagabend begannen türkische Streitkräfte mit einem Putschversuch gegen Erdogan – nach eigenen Angaben, um unter anderem die verfassungsmäßige Ordnung, die Demokratie und die Menschenrechte wiederherzustellen. Die türkische Armee sieht sich als Wächterin der weltlichen Verfassung des Landes und hatte in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt gegen die Zivilregierung geputscht.

Zunächst hieß es in der Nacht, die Streitkräfte hätten die Macht in der Türkei übernommen. Das Präsidialamt bestritt dies: Erdogan sei nicht abgesetzt. «Eine Gruppe innerhalb der Streitkräfte hat außerhalb der Kommandostruktur einen Versuch unternommen, die demokratisch gewählte Regierung zu stürzen.»

Der Präsident machte die Bewegung eines einstigen Verbündeten, des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen, für den Putschversuch verantwortlich. «Sie werden einen sehr hohen Preis für diesen Verrat zahlen», sagte Erdogan am Samstagmorgen am Atatürk-Flughafen in Istanbul. Erdogan und Gülen, der in der Türkei inzwischen als Terrorist gilt, hatten sich 2013 überworfen. Gülen verurteilte den Putschversuch per Mitteilung scharf.

von

Günter Schwarz – 16.06.2016