Ob Erdogan oder Kemalisten: Die Türkei gehört nicht in die EU. Das Land ist ein permanenter Krisenherd und hat alles andere nach dem gescheiterten Putsch der Militärs – nur keine Demokratie! Nach dem gescheiterten Putsch läuft alles auf eine Präsidialdiktatur hin.

Der Putschversuch gegen Recep Tayyib Erdogan und seine AKP-Regierung ist gescheitert. Die neue Regierung ist die alte. Die aufständischen Militärs haben sich ergeben. Aus der Schockstarre des gefahrenvollen Moments ist Erdogan wieder erwacht – stärker denn je. Jetzt wird er das Land von allen Gegnern säubern. Das Tor zur Präsidialdiktatur, die er so lang ersehnte, steht offen wie nie. Erdogan zögert nicht, er ergreift seine Chance.

Der Putschversuch hat vor allem eines gezeigt, die Türkei ist ein unberechenbares Land. Sie ist nicht reif für die Aufnahme in die Europäische Union. Sie war es nicht, sie ist es nicht, und sie wird es auf lange Sicht nicht sein. Das Land am Bosporus scheitert an viel zu vielen Aufnahmekriterien, die es nicht erfüllt. Es hat zu viele Probleme, Konflikte und politische Baustellen. Und es marschiert geradewegs in die Diktatur.

Putsch ist vollends gescheitert

Nach offiziellen Angaben der türkischen Regierung sind in der Nacht von Freitag auf Samstag mindestens 265 Menschen ums Leben gekommen. Mehr als hundert davon waren Soldaten der Putschisten. Die anderen größtenteils Polizisten und Zivilisten. Mehr als tausend Menschen wurden verletzt. Es waren nicht nur Anhänger Erdogans, die auf die Straße gegangen waren. Auch Gegner Erdogans waren dort. Sie hatten für einen Moment die Hoffnung auf eine Wende. Dann kamen die Straßenschlachten mit den Anhängern der AKP-Regierung.

Die putschenden Soldaten machten einen unglücklichen Eindruck. Viele schienen unsicher, ob sie ihren Offizieren oder den Anweisungen der Polizei folgen sollten. Man sah ihre Unwilligkeit, auf das eigene Volk zu schießen. Nein, es war nicht wie in Ägypten, als General as-Sisi den Präsidenten Muhammad Mursi absetzen ließ. Der Putsch von Kairo konnte nicht in Ankara und Istanbul wiederholt werden. Es war auch nicht wie bei den bisherigen Putschen in der Türkei. Denn diesmal war das Militär nicht geeint und hatte nicht die Mehrheit des Volkes hinter sich.

Der große Gegenschlag: Erdogan rechnet mit seinen Gegnern ab

Für Erdogan hätte es nicht besser kommen können. Er sieht das Ereignis als „Geschenk Gottes“. Nun kann er sich als Held inszenieren. Das Volk scheint mehrheitlich auf seiner Seite zu stehen. Die Fronten sind endgültig geklärt. Tausende Anwälte, Richter, Armeeoffiziere und Politiker, sich ihm das Regieren schwer gemacht hatten, können nun aus dem Weg geräumt werden. Wie unter anderem der Spiegel berichtete, sollen rund 2700 Richter vom Dienst entbunden werden. Die am Putsch beteiligten Armeeoffiziere sehen harten Strafen entgegen. Rund 2800 Soldaten und Offiziere wurden festgenommen. Erdogan will sie hart bestrafen. Schon greift der Ruf nach Wiedereinführung der Todesstrafe um sich. Viele Beobachter befürchten, dass auch Regimekritiker dran glauben werden, die nicht am Putsch beteiligt waren. Unangenehme Erinnerungen werden wach, denn solche Anlässe haben in der Geschichte oft den Weg für politische Säuberungen geebnet und am Ende in die Diktatur geführt. Stalin lässt grüßen.

Der Feind ist benannt, ob schuldig oder unschuldig. Erdogan hat sogar einen Hauptfeind ausfindig gemacht, dem er die Schuld am Putsch in die Schuhe schiebt, obwohl noch gar nichts bewiesen ist. Dieser Hauptfeind ist sein ehemaliger Mitstreiter, der Iman Fethullah Gülen, der seit mehr als einem Jahrzehnt in den USA lebt. Erdogan verlangt nun von den USA dessen Auslieferung. Doch dieser bestreitet vehement die Vorwürfe und weist alle Schuldzuweisungen von sich. Im Gegenteil: Gülen behauptet, Erdogan habe die Putschversuch selbst inszeniert, um einen Grund dafür zu haben, gegen seine Gegner vorzugehen.

Alles nur eine Inszenierung, um Erdogans Macht zu stärken?

Gülen steht mit diesem Gedanken nicht allein. Der Regierungskritiker und ehemalige AKP-Abgeordnete Feyzi Isbasaran hatte noch am Abend des Putsches auf Twitter Erdogan vorgeworfen, den Putschversuch inszeniert zu haben. Der Präsident stecke selbst dahinter, mutmaßte er. Daher werde der Putsch scheitern. Die ganze Sache, so spekulierte er sinngemäß, sei darauf angelegt, einen Grund zu haben, um gegen seine Kritiker im Militär und in der Politik härter vorgehen zu können, die sich seinen präsidialen Staatsideen widersetzen könnten.

Wie unter anderem die FAZ berichtete, ist Feyzi Isbasaran nicht allein mit dieser Vermutung. Viele Menschen in Istanbul äußerten einen ähnlichen Verdacht. Sie glauben, dass der dilettantische Putschversuch eine Inszenierung war, bei der die Soldaten einiger Armeeeinheiten ausgenutzt wurden, um die Bevölkerung in Angst zu versetzen und somit der Regierung von Erdogan den Grund für spätere Säuberungen zu geben und die Bevölkerung hinter sich zu einen.

Doch unabhängig davon, ob Erdogan hinter dem Putsch selbst steht und alles nur eine gefährliche Inszenierung war oder nicht, so stehen die Konsequenzen schon jetzt fest: Erdogan wird alles daran setzen, im Militär aufzuräumen, gefährliche Generale und Offiziere zu entfernen, die Armee zu einer gefügigen Institution zu machen. Dann, und nur dann, kann er sicher sein, bei seinen endgültigen Schritten zu einer Präsidialdiktatur keinen wirklichen oder größeren Militärputsch zu befürchten, wie es ihn in den Jahren 1960, 1971 und 1980 gegeben hatte.

Die Türkei ist kein stabiles Land, das reif für die EU wäre

Die vielen Militärputsche, die vielen gescheiterten Umsturzversuche, der unlösbare Kurdenkonflikt, die Verhärtung der Fronten zwischen Regierung und Opposition, die Islamisten, die immer lauter ihre fundamentalistischen Gedanken predigen, die Terroristen des Islamischen Staates, die auch in der Türkei ihre Anschläge verüben, der tiefe Sumpf aus Korruption, Macht und Vetternwirtschaft, in den auch Erdogans Familie und Umfeld verwickelt ist, das tiefsitzende Misstrauen der Kemalisten gegenüber allen religiösen Bewegungen und gegen die Kurden, die wechselhaften Verhältnisse der Türkei zu Zypern, Griechenland und Armenien, die angespannten Beziehungen zu Russland und die Verwicklungen der Türkei in den Syrienkrieg – das Gemengelage ist zu groß, als dass man der Türkei noch irgendeine Chance auf einen baldigen EU-Beitritt in Aussicht stellen könnte.

Hinzu kommen all die Demokratiedefizite, die Einschränkungen der Pressefreiheit, die Verfolgung politischer Oppositioneller, die unzumutbaren Verhältnisse in den türkischen Gefängnissen, die Aufhebung der politischen Immunität oppositioneller Parlamentarier und Politiker, die immer wieder auftretenden Rangeleien und Schlägereien im Parlament, die undiplomatischen Äußerungen der türkischen Führung und insbesondere Erdogans auf der internationalen Bühne.

Die Türkei ist ein Sicherheitsrisiko, weil das Kurdenproblem nicht gelöst werden kann

Der seit vielen Jahren schwelende Konflikt zwischen türkischem Militär und der kurdischen PKK mit all ihren Ablegern hat rund 30.000 bis 50.000 Menschenleben gekostet. Die Lage in Südostanatolien wurde niemals vollständig unter Kontrolle gebracht. Die Mischung aus kaltem und heißem Bürgerkrieg in dieser Region ist längst zu einer unendlichen Geschichte geworden. Unendlich, weil keine der beiden Seiten jemals die gesteckten Ziele erreichen wird. Die türkische Regierung und das türkische Militär werden auf lange Sicht nicht den Freiheitswillen und die Unabhängigkeitsbestrebungen eines Teils der kurdischen Bevölkerung brechen können. Die Kurden und die PKK werden auf lange Sicht keinen eigenen Staat bekommen – und auch kein Autonomiegebiet, denn das wäre der Anfang eines neuen Staates.

Die Vorurteile vieler Türken und Kurden gegeneinander sind tief verankert. Sobald in der Türkei das Thema Kurdistan aufkommt, werden viele Menschen sehr schnell emotional. Das gilt für die Türken und Kurden in der Türkei genauso wie für jene Türken und Kurden, die in Deutschland leben. Für viele Türken ist schon allein die Erwähnung des Namens Kurdistan ein Frevel gegen die türkische Nation. Viele Kurden dagegen halten wie fanatisiert an ihrer Idee von der Unabhängigkeit fest. Das bedeutet nicht, dass es auch Türken und Kurden gibt, die kompromissfähig sind und aufeinander zugehen wollen. Doch die Zahl der Menschen mit festen Vorstellungen ist groß. Jeder weitere Anschlag, jedes weitere Ereignis verfestigt die Meinungsfronten.

Solange der Bürgerkrieg in Syrien anhält und solange das Kurdengebiet im Nordosten des Irak relative Autonomie behält, werden die kurdischen Kämpfer der PKK und ihre Verbündeten immer wieder Möglichkeiten des Unterschlupfes finden, um im Untergrund neue Pläne zu schmieden. Dies gilt auch für weite Teile Südostanatoliens, wo in großen Teilen der kurdischen Bevölkerung weitgehend Sympathie für die Untergrundkämpfer vorherrscht. Daher wird die Gefahr weiterer Eskalationen auf lange Sicht nicht gebannt werden können.

Fazit: Die Türkei bleibt ein höchst unberechenbarer Staat. Es wäre ein hohes Sicherheitsrisiko, die Türkei in die EU aufzunehmen. Wenn Angela Merkel es dennoch der Türkei in Aussicht stellt, weil sie Erdogan zur Lösung der Flüchtlingskrise braucht, dann wäre dies unverantwortlich gegenüber Deutschland und Europa.

von

dpa – 20.07.2016