Wahnsinnige Kirchgänger?
Die dänischen Kirchen erfreuen sich seit einigen Tagen steigender Besucherzahlen. Scharen von Menschen versammeln sich rund um die historischen Kirchen des Landes. – Was ist passiert? – Trägt Bertel Haarders umstrittener Dänemark-Kanon plötzlich Früchte? Besinnen sich die Dänen auf ihren Glauben oder auf ihre Geschichte?
Nee! – Das wäre zu schön, um wahr zu sein.
Wie überall auf der Welt ist auch in Dänemark ein Spiele-Virus ausgebrochen. Pokémon Go heißt diese neueste Geißel der Menschheit. In unserer gestrigen Ausgabe haben wir darüber berichtet, wie dieses Smartphone-Spiel funktioniert und weshalb es sogar die dänische Polizei beschäftigt. Auf der Jagd nach Trophäen werden die Spielenden an zentrale Punkte, wie eispielsweise Schulen, Rathäuser, Kirchen oder Denkmäler usw. gelockt. Haben sie dort ihr Monster gefangen, verschwinden sie wieder – auf den Bildschirm ihres Smartphones glotzend.
Das hat schon zu vielen kuriosen Menschenansammlungen geführt und nicht selten auch zu gefährlichen Situationen im Straßenverkehr. In Berlin tauchten scharenweise Handy-Glotzer am Holocaust-Denkmal auf, denn in der Pokémon-Welt gibt es keinen Holocaust.
Eigentlich ist das ja auch einmal ganz schön, der Wirklichkeit zu entfliehen und Zerstreuung zu finden. Das brauchen wir Menschen, das tut uns gut. Doch dieses Spiel mischt Realität und Fiktion. Wer in seiner Pokémon-Welt schwelgend eine Gedenkstätte, einen Friedhof, ein gesegnetes Gebäude betritt, der bewegt sich zwar in der Wirklichkeit, verhält sich aber fiktiv.
Für mich als psychologischen Laien klingt das nach einer Definition von Wahnsinn. Doch versuchen wir es mal anders herum zu betrachten, denn überall auf der Welt treffen sich neuerdings junge und alte, dunkle und helle, dicke und dünne Menschen auf der Jagd nach knuffigen Monstern. Wildfremde Menschen tauschen sich über Geheimtipps aus, kommen ins Gespräch und lachen gemeinsam über das verrückte neue Hobby.
Sind es diese Menschen, die einen an der Waffel haben – oder sind es diejenigen, die sich in einigen Städten organisieren, um die ihrer Meinung nach störenden Pokémon-Spieler (im Fachjargon „Trainer“ genannt), mit Wasserbomben oder Eiern zu bewerfen?
Eines steht fest. Mit dem eigentlich wenig originellen Spiel hat der Hersteller Nintendo endgültig den ersten großen Meilenstein für die „erweiterte Realität“ gesetzt, die wir zum Beispiel aus Sportübertragungen (eingeblendete Freistoßentfernungen beim Fußball etwa) eigentlich schon lange kennen.
Technisch ist Pokémon Go ein alter Hut – doch als Massenphänomen öffnet es die Augen für die Möglichkeiten, die unsere moderne Technik bietet. Nicht nur zum Zeitvertreib, sondern auch sozial.
Denn viele derer, die dank des Spieles nun Parks, Kirchen und andere öffentliche Plätze bevölkern, haben bisher einen Großteil ihrer Zeit zu Hause verbracht, sind der Wirklichkeit vollkommen entflohen und saßen meistens vor dem Bildschirm.
von
Günter Schwarz – 21.07.2016