Bis vor kurzem war das russische Internet eines der freiesten in der Welt. Alle sind vernetzt – immer und überall, so scheint es. Doch Internet-Aktivisten fürchten auch den Wandel, hin zu chinesischen Verhältnissen mit Zensur und Überwachung.

Überall digitale Bürger in der Moskauer Metro: Schnell einen Termin beim Arzt buchen, die Miete zahlen, die eigenen Abiturnoten einsehen, gegen ein Projekt der Stadtverwaltung stimmen, den richtigen Metroausgang nehmen – mehr als 70 Prozent der Russen nutzen das Internet. Die Geschwindigkeit der Digitalisierung ist enorm. Das Runet – das russische Internet – ist bis vor kurzem eines der freiesten Netze in der Welt gewesen.

Die Regierung ist schon lange online, auf allen Plattformen zuhause. Oft geklickt sind die Blogs der Kremlkritiker. Immer neue Enthüllungen über Korruption bis in die Staatsspitzen – darüber führt etwa Alexej Nawalny im Netz Buch. Auch im Runet zuhause: die wenigen verbliebenen freien Medien. Doch mehr als 90 Prozent der Russen beziehen ihre Informationen ausschließlich über das von der Regierung kontrollierte Fernsehen.

Blogger buddeln Stories aus

Alles was dort nicht auftauchen darf, buddeln Blogger aus den sozialen Netzwerken heraus. Digitale Detektive – wie Ruslan Leviev vom „Conflict Intelligence Team“: „Wir sammeln und analysieren Informationen über Konflikte in Syrien und in der Ostukraine“, erklärt er. „Wir ermitteln, ob russische Truppen dort waren, wie sie handelten, ob sie Verluste hatten, zu welchem Zweck sie dort stationiert sind.“

Mittlerweile hat das Bloggerteam Quellen innerhalb des Militärs. Manche Nachforschungen wurden später offiziell bestätigt. Manche Informationen werden vernebelt, verschwiegen. Leviev weiß aus Erfahrung: „In Russland ist die Fake-Industrie besonders gut entwickelt. Um seine Schuld zu dementieren, veröffentlicht der Staat so viele Versionen wie nur möglich. So war das zum Beispiel beim Flug MH17.2

Digitaler Aktivismus ist unerwünscht

Wer was wie schreibt – das hat der Staat genau im Blick. Digitaler Aktivismus ist unerwünscht. In den vergangenen Monaten bekamen etliche Russen Haftstrafen, nur weil sie sich auf sozialen Netzwerken gegen die Ukraine-Politik der Regierung aussprachen oder zu Demonstrationen aufriefen.

Big Brother ist überall. Russlands Parlament hat jüngst drakonische Gesetze verabschiedet. Telekom- und Internetfirmen müssen alle Kommunikationen über Monate speichern. SMS, Mails, Fotos, verschlüsselte Texte – alles muss jederzeit, ohne Gerichtsbeschluss, offen sein für die Geheimdienste. Selbst der in Russland festsitzende NSA-Whistleblower Edward Snowden kritisierte die Gesetze – sie seien „eine durch nichts zu rechtfertigende Verletzung von Bürgerrechten“. Erinnerungen an Orwells 1984 werden wach, sagen die Kritiker.

Eine Initiative hat nun eine Petition gestartet zum Schutz der Freiheit und Privatsphäre im Internet. Sie berufen sich auf die russische Verfassung, denn die verbietet Zensur. „Das Gesetz ist, wie mir manchmal scheint, von völlig inkompetenten Leuten beschlossen worden, die überhaupt nicht verstehen wie das globale Netz funktioniert“, sagt Sarkis Darbinyan von der RosKomSvoboda Initiative. „Das ist wohl ein Trend: Die russischen Behörden sind auf dem Weg zum chinesischen Internet, wo alle Information im Netz unter Zensur fällt und alle unter der Angst leben, wegen eines Reposts oder Retweets zu haften.“

Das digitale Russland ist technologisch hochentwickelt. Doch die politischen und sozialen Probleme löst die Technik nicht. Die User schauen meistens nur zu. Und posten und twittern – noch – freimütig aus ihrem Leben.

von

Günter Schwarz – 29.07.2016