Türkei: „Diese Rhetorik ist der Normalfall“
Seit dem gescheiterten Putschversuch setzt der türkische Präsident Erdoğan massiv seinen Maßnahmenkatalog um: umfangreiche Entlassungswellen, Festnahmen in großer Zahl in unterschiedlichsten Bereichen. Sprachlich fasste er diese Aktionen unter dem Begriff „Säuberungen“ zusammen. Der amtierende Wirtschaftsminister sprach jüngst davon, dass die Putschisten hart bestraft werden würden: „Sie werden in zwei Quadratmeter großen Löchern sterben wie Kanalratten.“ Die Journalistin Cigdem Akyol beschäftigt sich seit längerem mit Erdoğan. Über ihn hat sie zwei Biografien veröffentlicht, die letzte ist vor kurzem erschienen.
Der Radiosender NDR Kultur hat Cigdem Akyol zur derzeitigen Situation in der Türkei interviewt. Frau Akyol schreibt als Korrespondentin in Istanbul für mehrere deutsche Zeitungen, unter anderem für die „ZEIT“. Lesen sie, was Frau Akyol zu dem Thema zusagen hat:
NDR Kultur: Frau Akyol, „Säuberung“, „Kanalratten“ – ist das Teil einer besonders ausgeschmückten Rhetorik oder wie empfinden sie diesen Sprachgebrauch, der im türkischen Original vielleicht auch noch einmal anders klingen kann?
Akyol: Die Stimmung ist sogar noch schlimmer, als sie in den deutschen Medien dargestellt werden kann. Sie ist sehr schlecht und wird immer schlechter, denn wir erleben jeden Tag, dass Wissenschaftler, Journalisten, Kritiker festgenommen werden. Die Menschen haben Angst, dass sie nicht mehr aus dem Land herauskommen, dass sie nicht mehr ins Land hineinkommen, dass sie ins Gefängnis kommen.
Diejenigen, die sich als Sieger des Putsches sehen, die AKP-Anhänger, heizen die Situation noch an, sie „jubeln“ diese Situation noch an. Am Taksim-Platz, dem zentralen Platz in Istanbul, haben tausende Menschen über Wochen hinweg die Todesstrafe gefordert. Das wurde von der Regierung unterstützt, indem Busse kostenlos zum Taksim-Platz gefahren sind, oder die Regierung den Menschen, die dorthin gekommen sind, kostenfreie Speisen angeboten hat. Sie haben also die Menschen dazu angeleitet, auf diese Plätze zu gehen und die Todesstrafe zu fordern. Diese Schadenfreude, dieser Nationalismus bricht sich gerade bahn.
NDR Kultur: Sie sind in Deutschland geboren und hier aufgewachsen, haben heute zugleich den Standort in Istanbul. Von „Erdoğan -Angst in Deutschland“ ist die Rede. Ist diese Angst in Deutschland berechtigt?
Akyol: Diese Angst ist deswegen berechtigt, weil auch die Deutsch-Türken, die es in Deutschland wagen, Erdoğan zu kritisieren, oder auch die Gülen-Anhänger, sich davor fürchten müssen, dass sie nicht mehr einreisen können. Dass sie, wenn sie in die Türkei einreisen und keinen deutschen Pass haben, Schwierigkeiten mit der türkischen Regierung bekommen. Es gibt auch von türkischen Konsulatsmitarbeitern Anweisungen, dass Regierungskritiker denunziert werden sollen. Das heißt, diese Politik der Denunziation, die wir in der Türkei täglich erleben, wird auch nach Deutschland weitergetragen. Deswegen ist es berechtigt, sich als Deutsch-Türke Sorgen zu machen, wenn man in Deutschland lebt. Denn die türkische Regierung liest ganz genau mit, hört ganz genau zu und beobachtet ganz genau, was die Deutsch-Türken bei uns machen.
Das Interview führte Claudia Christophersen.
von
Günter Schwarz – 05.08.2016