Wladimir Putin empfängt heute Recep Tayyip Erdoğan zum Versöhnungstreffen in Sankt Petersburg. Aber es geht um viel mehr als nur um Versöhnung.

Putin ist jetzt wieder „sein Freund“. Wenn sich Recep Tayyip Erdoğan versöhnt, dann gleich mit der ganz großn Geste. Am heutigen Dienstag treffen die beiden Männer in St. Petersburg zusammen, wobei Erdoğan zu dem Treffen sagt: „Es wird ein historischer Besuch, ein Neuanfang sein. Bei den Gesprächen mit meinem Freund Wladimir wird eine neue Seite in den beiderseitigen Beziehungen aufgeschlagen.“ In weniger als zehn Monaten sind Putin und Erdogan dann einmal den Weg von engen Partnern bis an den Rand eines Krieges gegangen – und zurück.

Die Fenster der türkischen Botschaft in Moskau, die wütende Demonstranten nach dem Abschuss eines russischen SU-24-Kampfflugzeugs durch die türkische Armee Ende November eingeworfen hatten, sind längst wieder repariert. Dieser Vorfall hatte die Spannungen im türkisch-russischen Verhältnis ausgelöst. Türken und Russen haben beide einen hohen Preis dafür gezahlt. Dass am Ende die Türkei einlenkte, hat damit zu tun, dass die Schmerzgrenze der Türkei aufgrund ihrer Probleme mit der EU und den USA niedriger liegt.

Angst um die Touristen

An den Ferienstränden der sogenannten türkischen Riviera haben Hoteliers in diesem Sommer schon gebetet, es mögen doch bitte wieder Touristen kommen. Als Strafe für den Flugzeugabsturz hatte Moskau russische Urlaubsflieger in die Türkei gestoppt. Dieses und mehrere Terroranschläge in der Türkei führten dazu, dass eine Säule der Wirtschaft wegbrach. Allein von den russischen Touristen kamen fast 90 Prozent weniger. Die Sanktionen betreffen auch die türkische Exportwirtschaft. Der Rückgang liegt bei 60 Prozent. Kurz nach dem Abschuss zeigte sich Ankara noch optimistisch: „Wenn sich eine Tür schließt, öffnen sich eine andere“, sagte der damalige Premierminister Ahmet Davutoglu. Nun heißt es wieder, Russland sei schwer ersetzbar.

Auf der anderen Seite ist das Verhältnis zum Westen mittlerweile von Misstrauen geprägt. Der Putschversuch vom 15. Juli hat diese Kluft nur noch tiefer werden lassen. Putin war einer der ersten Staatschefs, die Erdoğan nach dem Putschversuch anriefen. Zwar verurteilte auch die deutsche Kanzlerin Merkel öffentlich die geplante Machtübernahme durch das Militär. Aber in Deutschland und anderen europäischen Ländern wurde sofort Kritik am harten Vorgehen der türkischen Regierung gegen mutmaßliche Unterstützer der Putschisten laut: Zehntausende Beamte wurden suspendiert, es kam zu weit mehr als 10’000 Festnahmen.

Erdoğan hatte Empathie erwartet

Erdoğan beschwerte sich im Gespräch mit der französischen Zeitung „Le Monde“ über die Reaktion des Westens. Als Putin ihn wegen des Putschversuchs angerufen habe, da habe dieser nicht nach der Zahl der suspendierten Militärs gefragt. Anstatt Empathie zu zeigen, habe es im Westen Kritik gegeben. „Das hat uns traurig gestimmt.“

Deutschland hat Staatssekretär Markus Ederer nach Ankara geschickt. Als es Deutschland noch wichtig war, in der Flüchtlingskrise mit der Türkei ein Abkommen zu erzielen, kam Merkel persönlich – alle paar Wochen. Frostig ist das Verhältnis nicht nur zu Deutschland. Österreich will am liebsten die Beitrittsgespräche mit der Türkei beenden. Erdoğan streitet zudem mit Italien, weil dort die Justiz gegen seinen Sohn Bilal wegen des Vorwurfs der Geldwäsche ermittelt.

Aus Kreisen der Regierung in Ankara heißt es, der EU-Beitritt bleibe ein strategisches Ziel. Eine Herzensangelegenheit aber ist er schon lange nicht mehr. Kaum besser ist das Verhältnis zu den USA. Dort lebt Fethullah Gülen im Exil, der Mann, den Erdoğan für den Putschversuch verantwortlich macht. Gülen soll mit seinem Netzwerk in der Türkei den Staat samt Armee unterwandert haben. Ankara fordert die Auslieferung Gülens. Aber die USA verlangen Beweise. Für Erdoğan steht der Westen aufseiten der Putschisten. Dass US-Außenminister John Kerry erst am 24. August in die Türkei kommen will, dauert ihm zu lange. „Das ist spät, zu spät. Das macht uns traurig“, sagt Erdoğan.

Pipeline wieder ein Thema

Putin ist geübt darin, Regierungen die Hand zu reichen, die durch die Prinzipien der Europäer oder Amerikaner in Bedrängnis geraten sind. Während der Finanzkrise zum Beispiel kam Russland als Retter von Zyperns Banken ins Spiel. Wegen der griechischen Schuldenkrise empfing Putin zweimal Regierungschef Alexis Tsipras. Beide Male gab es kein greifbares Ergebnis, aber immerhin war Moskau im Spiel.

Bei den Türken hatte sich Putin nach dem Abschuss des Jets über den „Stoß in den Rücken“ empört, den diese Russland im Kampf gegen den Terror versetzt hätten. Über Monate stellte das russische Staatsfernsehen Erdoğan als heimlichen Terrorhelfer des sogenannten Islamischen Staates (IS) dar. Doch seit sich der türkische Präsident am 27. Juni schriftlich für den Abschuss entschuldigt hat – wenngleich nicht bei Putin, wie von diesem gefordert, sondern bei der Familie des getöteten Piloten, hat sich der Ton gewandelt.

Wichtiges Treffen für beide Parteien

Das Treffen sei für beide Seiten „von größter Bedeutung“, sagt Putins außenpolitischer Berater Juri Uschakow. Wenngleich nicht zu erwarten sei, dass dabei neue Verträge unterschrieben würden. Es kommt wohl mehr auf die Geste an als auf den Inhalt. Demnach werden die beiden Präsidenten zunächst unter vier Augen sprechen, bevor sie einige Minister zu einem Arbeitsfrühstück hinzuholen.

Am Abend gibt es noch ein Treffen mit Wirtschaftsvertretern, bei dem unter anderem Gazprom-Chef Alexei Miller dabei sein soll. Womöglich geht es auch um das Projekt „Turkish Stream“, jene Pipeline, die russisches Gas über den Grund des Schwarzen Meeres an die türkische Küste bringen soll – und von dort zur griechischen Grenze und damit zu den europäischen Verbrauchern. Wegen des Konflikts mit Ankara lag das Projekt auf Eis.

Erdoğan sehr beweglich

Wichtiger noch für Erdoğans Einlenken dürfte allerdings gewesen sein, dass Moskau nach dem Abschuss seines Flugzeugs damit begann, Waffen an die Kurden in Syrien zu liefern. In den vergangenen Wochen hatten die USA und Russland zudem einen neuen Versuch gestartet, ihr Vorgehen in Syrien abzustimmen. Mitte Juli sprach US-Außenminister Kerry zwei Tage lang in Moskau mit Putin und Außenminister Sergei Lawrow – eine Entwicklung, die Ankara Sorgen bereiten musste.

Wenn Amerikaner und Russen beide die Kurden unterstützen, die ihren Kampf für ein unabhängiges Kurdistan nicht nur gegen Syriens Machthaber Bashar al-Assad führen, sondern auch gegen die Türkei, hat am Ende Ankara das Nachsehen. Erdoğan kann sehr beweglich sein, wenn er befürchtet, auf der Seite der Verlierer zu stehen.

von

Günter Schwarz – 09.08.2016