Flüchtlinge – „Es ist besser, wenn du gehst“
Der 16-jährige Mohammed Hussein wurde von seinen Eltern auf die Reise nach Deutschland geschickt. 4000 Euro, viele Kilometer zu Fuß, Angst und Schweiß für ein Leben mit Perspektive.
Mohammed Hussein wurde von seinen Eltern auf die Reise geschickt. „Meine Familie war schon länger nicht mehr in Syrien. Sie lebte zum Teil in der Türkei. Und meine Großeltern haben entschieden: ,Du hast hier keine Perspektive. Kannst nicht studieren und Türkisch kannst du auch nicht. Da ist es besser, wenn du gehst‘.“
Mohammed ist 16 und eigentlich palästinensischer Herkunft. Vor mehr als 60 Jahren war Mohammeds Familie schon einmal geflohen: vor der Gewalt des ersten arabisch-israelischen Krieges in das damals sichere und friedliche Syrien. Mohammeds Heimatstadt ist Muzayrib, eine Kreisstadt in der Nähe der Stadt Daraa im Süden Syriens. „Meine Familie ist sehr groß. Wir sind zuhause acht Geschwister. Drei Jungs, fünf Mädchen.“ Das Auskommen der Familie zu sichern, war ein Kraftakt. „Mein Vater arbeitete als Taxifahrer.“ Trotzdem konnte Mohammed als ältester Sohn immerhin neun Jahre zur Schule gehen. Doch 2012 hatte das Leben der Familie im Süden Syriens ein Ende – wie für viele andere auch.
In der unweit von Mohammeds Wohnort gelegenen 80.000-Einwohner-Stadt Daraa begannen im März 2011 die Proteste gegen das Regime von Bashar Al-Assad. Von hier aus eroberten die Rebellen gegen Assad die Stadt und zahlreiche Gebiete in der Umgebung. Panzer, Raketen, Kampfjets waren und sind die Antwort Assads.

Als die Proteste gegen Assad in Daraa begannen, begann Mohammeds zweite Flucht
Sein Onkel suchte nach einem geeigneten Schleuser. Der sollte die Reise nach Europa organisieren. Schon nach ein paar Tagen hatte er Erfolg. In Izmir bestieg Mohammed gemeinsam mit einer Reihe anderer syrischer Jungs ein Schlauchboot. „Auf unserem Schlauchboot waren nicht nur Syrer, sondern auch Afrikaner. Und wir waren viel zu viele. Eigentlich war das Boot vielleicht für zwei Dutzend Passagiere ausgelegt – aber es wurde mit insgesamt 60 Leuten beladen.“ Mohammed übersteht die Überfahrt: die Beine angezogen, den Kopf gesenkt, um möglichst wenig Platz in Anspruch zu nehmen. „Keiner durfte sich bewegen. Was mir durch den Kopf ging? ,Inshaallah!‘ – so Gott will, werde ich gesund in Europa ankommen. Es war sehr eng, aber ich hatte nicht wirklich Angst, dass das Boot kentert. Unser Kapitän war ein Algerier. Er telefonierte während der ganzen Überfahrt mit dem Schleuser auf dem Land, um seine Route zu halten. Nach drei Stunden kamen wir auf der griechischen Insel Kos an.“ Dort brachte sich die Gruppe in einer Kirche in Sicherheit. „Aber irgendjemand hat die Polizei gerufen. Die fragten nach unseren Namen – ich wusste durch meinen Schleuser, dass es besser war, mein Alter mit 18 Jahren anzugeben. Dann könne ich mich weiter frei bewegen, denn Minderjährige werden wohl sofort festgenommen. Ich habe gesagt, dass ich Syrer bin. Ich hatte natürlich keine Papiere mehr, aus denen hervorging, dass ich palästinensischer Herkunft bin.“
Von Schlepper zu Schlepper
Mit anderen Jugendlichen aus Syrien checkte Mohammed auf der Fähre nach Athen ein. „Dafür haben wir uns ganz normale Tickets gekauft. Unser Ziel war Athen. Wir wussten, dass dort ein anderer Schleuser auf uns warten würde. Das war bereits zuvor organisiert. Erwartet hat uns dann ein afghanischer Schleuser – der wechselte seinen Namen ungefähr so oft wie andere die Kleidung. Die meiste Zeit hieß er Mansour.“

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Viele verdienen an der Flucht
Fast wäre Mohammeds Vorhaben schief gegangen. „Als sich unsere Gruppe in Richtung ungarische Grenze in Gang setzte, kamen uns zwei Polizisten entgegen. Wir liefen ihnen sozusagen in die Arme. Die waren sehr unfreundlich, wollten von allen die Personalien aufnehmen. Das Verhandeln hat einige Zeit gedauert, doch am Ende war es nicht so schwierig: Jeder von uns gab ihnen 20 Euro, dann sind sie abgezogen.“ Angesichts der 23 Personen in der Gruppe haben die zwei Polizisten auf Streife so nebenher 460 Euro eingenommen. An den Flüchtenden, die durch Europa ziehen, verdienen viele mit: von korrupten Polizisten und Grenzbeamten bis zu Bus- und Speditionsunternehmen – oder den Taxifahrern an der ungarischen Grenze. Bis heute ist Mohammed erstaunt, welches Geschäft dort gemacht wird: „Flüchtlinge zahlen horrende Preise für kurze Strecken. Für die Fahrt nach Budapest, die etwa zwei Stunden dauert, sollte jeder der Fahrgäste 100 Euro zahlen. Das sind bei einem vollen Taxi 400 Euro!“

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Von den 4000 Euro, die seine Familie in seine Flucht gesteckt hatte, blieb Mohammed nicht mehr viel. „Die 700 Euro, die noch übrig waren, musste ich für den Rest der Strecke bis nach Bayern aufwenden. Beim Grenzübertritt nach Deutschland hatte ich gerade noch 100 Euro übrig.“ Mohammed reiste direkt bis Berlin: Hier hat er einen Onkel und andere entfernte Verwandte. Gute Gründe sprachen für Deutschland: „Kein anderes europäisches Land kam für uns in Frage. Und ich bin mir sicher: Hier kann ich Architektur studieren oder Ingenieur werden. Das ist mein Ziel!“

Mohammed ist einer von zwölf jugendlichen Migranten und Migrantinnen, die Ute Schaeffer in ihrem Buch „Einfach nur weg“ porträtiert hat.
von
Auszug aus Ute Schaeffers Buch – 25.08.2016