Das Innenministerium beschreibt die Türkei in einem vertraulichen Papier als „zentrale Aktionsplattform“ islamistischer Gruppierungen, will es aber nicht öffentlich machen. Erdoğan treibt Berlin in den moralischen Bankrott.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat keine Skrupel, wenn es darum geht, die Rolle der Türkei als Schlüsselstaat für den sunnitischen Islam zu stärken. Er schreckt auch nicht davor zurück, dafür Gruppen, die als Terrororganisation eingestuft sind, zu unterstützen. Das ist ein offenes Geheimnis.

Im Detail dokumentiert nun erstmals auch die Bundesregierung öffentlich, dass auch sie davon schon länger weiß. Gewollt oder nicht, demonstriert sie so, zu was für unvorstellbaren Zugeständnissen sie im Umgang mit der Türkei bereit ist. Es ist mehr als überfällig, dass sie eine klare und prinzipiengeleitete Haltung zu Erdoğan etabliert.

Das Bundesinnenministerium hatte auf eine kleine Anfrage der Linken geantwortet, dass die Türkei eine „zentrale Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen“ aus dem Nahen und Mittleren Osten sei und beruft sich auf Informationen des Bundesnachrichtendienstes. Es ist verheerend, dass diese Informationen erst auf Nachfrage und einen Leck an die Öffentlichkeit gelangt sind. Noch schlimmer ist nur, dass das Innenministerium diese Einschätzung „aus Gründen des Staatswohls“ als vertraulich eingestuft hat und man sich auch im Auswärtigen Amt ärgert. Das Haus, das für die diplomatischen Beziehungen zu Ankara verantwortlich ist, wurde bei der Stellungnahme zur Anfrage der Linken nicht einbezogen. Aus der SPD kam prompt Kritik. Das klingt so, als hätte Außenminister Frank-Walter Steinmeier lieber weiterhin so getan, als ob er von Erdogans länderübergreifenden Umtrieben nichts wüsste. Die Bundesregierung hat sich im Umgang mit der Türkei restlos verrannt.

Beschwichtigungen machen alles nur schlimmer

Dabei zeichnete sich schon lange vor diesem Kommunikationsgau ab, dass Beschwichtigungsstrategien zu nichts führen. Obwohl die Bundesregierung etlicher Menschenrechtsverletzungen zum Trotz nur zaghaft Kritik an Erdoğan äußerte und ihm für den Flüchtlingspakt gewaltige Zugeständnisse versprach, verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Berlin und Ankara zusehends. Auch Berlins weicher Kurs bewegte Erdoğan nicht dazu, sich zu mäßigen. Er sah sich vielmehr ermutigt, aus dem Ausland immer mehr zu fordern und im Inland immer härter durchzugreifen. Der Flüchtlingsdeal, der Berlin zu vielen dieser Zugeständnisse bewegt hat, lässt sich trotz erster Erfolge bestenfalls als fragil bezeichnen. Ankara droht vehement, dass die Türkei das Geschäft platzen lässt, wenn die Türken nicht schnell visafrei in die EU einreisen dürfen und verweigert sich zugleich den dafür notwendigen Reformen.

Dass der Umgang mit und die Lage in der Türkei immer schlechter wurden, verwundert nicht. Erdoğan wirkt für seine Anhänger schließlich nur so stark, weil die EU sich zu einem moralischen Offenbarungseid nach dem anderen hinreißen lässt. Es gibt gerade niemanden, der seine Macht ernsthaft infrage stellt. All das heißt nicht, dass Berlin nun alle diplomatischen Gepflogenheiten fahren lassen soll. Ein vorsichtiger und respektvoller Umgang auch mit einem schwierigen Partner bringen mehr als grobe Gesten. Auch Kompromissbereitschaft ist nicht verwerflich. Doch es gibt Grenzen. Und davon hat Berlin Erdoğan stillschweigend schon viel zu viele überschreiten lassen.

Nur wenn Berlin sie glaubhaft aufzeigt – und das heißt nicht nur hinter vorgehaltener Hand, sondern auch öffentlich –, wird Erdoğan sich mäßigen und ein verlässlicher Partner sein. Das kann auch misslingen. Aber selbst wenn Erdoğan sich bei aufrichtiger Kritik restlos abwenden, wenn darüber der Flüchtlingspakt scheitern sollte, so hätte Europa zumindest Haltung bewahrt. Das wiederum ist die Voraussetzung dafür, dass  eine liberale und offene Opposition in der Türkei eine Chance hat, sich gegen Erdoğans Allmacht zu wehren.

von ´

Issio Ehrich – 30.08.2016