Was kommt nach dem IS? Militärisch in die Ecke gedrängt, zählt das „Kalifat seine Tage“. Doch ist die Auslöschung der Terrormiliz wirklich eine gute Idee? Oder könnte der IS für den Westen nützlich sein? Absolut, heißt es ausgerechnet aus Israel.

Kann der Westen ein Interesse an einem Fortbestand der Terrororganisation Islamischer Staat haben? Ausgerechnet aus Israel, einem der erklärten Erzfeinde des selbsternannten Kalifats, kommt eine für viele provozierende und steile These, die besagt: Ja, die vollständige Vernichtung der IS-Strukturen wäre ein strategischer Fehler. Der Westen solle weiterhin daran arbeiten, den IS zu schwächen, wobei die völlige Zerstörung jedoch kontraproduktiv wäre, schreibt Efraim Inbar, der Direktor des Begin-Sadat-Zentrums für strategische Studien, einem rechtskonservativen Thinktank, das unter anderem für die israelische Regierung und die Nato forscht.

Der Westen empfinde das Handeln des IS zurecht als zutiefst brutal und unmoralisch. Tausende Menschen sind zum Teil auf bestialischste Weise von den Milizen getötet worden. Doch der Westen dürfe über diese Empörung nicht den klaren Blick auf die Fakten verlieren. Denn der IS habe nicht nur militärisch stark begrenzte Fähigkeiten, die Terrormiliz sei auch ein Gegenspieler anderer „Feinde“ des Westens, argumentiert Inbar.

Militärische Erfolge könne die Organisation ohnehin nur dort verbuchen, wo politische Leere herrsche oder geherrscht habe. Die militärischen Offensiven im Irak und Syrien hätten zwar gezeigt, dass der IS gewisse taktische Fähigkeiten habe. Aber es waren eben Angriffe auf gescheiterte Staaten mit einem schwachen Militärapparat. Die gleiche Argumentation ließe sich im Übrigen auch auf die Erfolge des IS in Libyen, auf dem Sinai oder anderer islamistischer Terrorgruppen wie Boko Haram im Norden Nigerias swie den Terrorgruppen Al-Murabitun und Al-Kaida im Islamischen Maghreb übertragen. Sobald die Islamisten militärisch unter Druck geraten seien, habe sich stets gezeigt, wie schwach die Strukturen der Organisation auf dem Schlachtfeld seien – etwa beim Kampf gegen die türkische Armee oder die Peschmerga.

Höheres Tötungsrisiko für Terroristen

„Solange der IS existiert, gebe er jungen und frustrierten radikalen Muslimen ein Zuhause“, meint Inbar. So seien gewaltbereite Radikale stets relativ gut zu identifizieren, da sie sich in einem regional bestimmten und relativ fest umrissenen Gebiet aufhielten. Gebe es das selbsternannte Kalifat eines Tages nicht mehr, werde es wahrscheinlicher, dass diese Radikale wieder in ihre Heimatländer zurückkehren, um dort Gewalttaten zu verüben.

Inbar warnt vor der Entstehung einer terroristischen Diaspora und betont, man müsse auch folgende zynische Rechnung zulassen: Auf dem Gebiet des IS ist jeder potentielle Terrorist einem weitaus höheren Risiko ausgesetzt, getötet zu werden als es in seinem Heimatland der Fall wäre. Vor allem Kämpfer, die auf dem Schlachtfeld sterben, seien für ihre Heimatländer, aus denen sie in das Gebiet des IS gereist sind, ein „Segen“, schreibt Inbar. Bleibt der IS am Leben, bestehe die rechnerische Chance, dass mehr potentielle Terroristen auf den Schlachtfeldern im Irak und in Syrien sterben. Daran müsse der Westen ein Interesse haben. Denn diese Radikalen könnten ja ebenso gut Anschläge in Paris, Brüssel, London, Berlin oder sonst wo verüben.

Darüber hinaus könne ein schwacher, gewissermaßen vor sich hinsiechender Islamischer Staat junge Radikale desillusionieren und davon abhalten, in das Gebiet des IS zu reisen. In jedem Fall habe ein schwacher Islamischer Staat weitaus weniger Strahlkraft als ein Kalifat, das von einer mächtigen US-geführten Koalition zerstört wurde – und so die Legende vom Westen, der immer und immer wieder den Islam bekämpft, weiter am Leben erhält.

Und letztlich habe der IS auch für Israel eine wichtige Funktion. Solange es die Miliz gebe, seien auch die anderen „bösen Jungs“ in der Region beschäftigt. Inbar spricht von der Hisbollah, der Al-Nusra-Front, Syriens Präsident Assad und natürlich dem Iran. Er versteht den IS auch als eine Art Puffer vor all den Feinden, die Israel in der Region hat. „Es klingt zynisch, aber so bleiben die bösen Jungs beschäftigt und haben weniger Zeit, die ,guten Jungs‘ anzugreifen“, schreibt Inbar. Freilich sieht jemand wie Inbar aus dem rechten israelischen Spektrum Israel und den Westen stets als die „guten Jungs“. Werde der IS jedoch geschlagen, würden iranische Großmachtphantasien beflügelt, Russlands würde ermutigt, sich weiter in der Region zu engagieren und würde die „Tyrannei“ Assads verlängern – und das sei alles andere als in Israels Interesse.

Doch bisher habe Israels mächtigster Verbündeter noch nicht verstanden, wie sich der IS nutzen lasse. „Die amerikanische Regierung hat noch nicht verstanden, dass der IS eine nützliche Waffe gegen die Hegemonie Irans in der Region sein kann“, heißt es am Ende der Ausführungen des Direktor s des Begin-Sadat-Zentrums für strategische Studien, Efraim Inbar.

von

Günter Schwarz – 31.08.2016