Weil die EU-Finanzminister schlafen, plündern Kriminelle schon seit mehr als 20 Jahren ungestört die Allgemeinheit. Der Mehrwertsteuer-Betrug kostet den Staat jährlich Milliarden. Doch die Politik tut sich schwer, den fatalen Systemfehler zu beheben.

Für die sechs Männer aus Deutschland, Großbritannien und Frankreich sah es erst so aus, als würde sich die Sache lohnen. Mit dem Handel von CO2-Zertifikaten wurden sie auf Kosten der Staatskasse Millionäre. Sie verkauften die Emissionsscheine so schnell im Kreis, dass dem Fiskus schwindlig wurde und ließen sich die Mehrwertsteuer, die dabei anfiel, illegal vom Finanzamt erstatten. Doch das bekam Wind von der Sache und nahm die Bande hoch. Alle sechs Männer wanderten ins Gefängnis. Auch sämtliche Manager der Deutschen Bank, die den Betrügern halfen, wurden zu hohen Haft- oder Bewährungsstrafen verurteilt. Schaden für den Fiskus: 230 Millionen Euro.

Die Ermittlungen mündeten 2011 in einen der größten deutschen Wirtschaftsprozesse. Doch das Verfahren ist nur die Spitze des Eisbergs. Denn nicht nur die sechs verurteilten Manager, sondern tausende Kriminelle wickeln solche Kreisgeschäfte übers Ausland seit Jahrzehnten ungestört in ganz Europa ab, um den Fiskus zu schröpfen. Früher ging es um Autos, Handys, Tablets oder Computerchips. Jede Ware, die teuer und zugleich leicht zu transportieren ist, verspricht maximalen Profit mit minimalem Aufwand. Im Zeitalter des Onlinehandels müssen Produkte nicht mehr über Grenzen gebracht werden. Sie werden einfach per Mausklick verschoben, wie CO2-Zertifikate eben.

Es ist nicht nur die kriminelle Energie von Banden, die die Plünderung des Staates möglich macht. Der größte Förderer des Verbrechens ist die EU selbst. Sie sieht tatenlos zu. 28 nationale Steuerbehörden erheben in Europa die Umsatzsteuer. Das ist nicht nur ein Wachstumshemmnis für Firmen, die von einem EU-Land ins andere expandieren wollen. Es ist seit Jahren auch ein Einfallstor für das organisierte Verbrechen. Die Hintermänner sitzen in Dubai, Russland oder der Schweiz. Die Politik öffnet ihnen bereitwillig die Tür.

Die EU verschläft die Reform

Rund 160 Milliarden Euro Mehrwertsteuer gingen den EU-Ländern 2014 durch ineffiziente Erhebung und Betrug verloren – mehr als ein Prozent der EU-Wirtschaftsleistung. Im Schnitt versickern in jedem EU-Land etwa 14 Prozent aller Einnahmen. In Griechenland und Italien sind es 28 Prozent, in Litauen, Rumänien und Malta sogar über 35 Prozent. Deutschland liegt mit zehn Prozent im Mittelfeld.

„Das gegenwärtige System ist beklagenswert schlecht gegen Betrug gewappnet“, kritisiert EU-Steuerkommissar Pierre Moscovici. Er appelliert an die Mitgliedstaaten, sich nun rasch auf ein neues, sicheres System zu einigen. 2017 will die EU-Kommission Vorschläge dafür vorlegen.

Die Öffentlichkeit nimmt bislang kaum Notiz von dem Problem. Dabei beträgt die Mehrwertsteuer-Lücke allein in Deutschland rund 23,5 Milliarden Euro – fast so viel wie der Haushalt des Verkehrsministeriums. Die EU-Finanzminister verschlafen die Reform schon seit Jahrzehnten. Die aktuellen Regeln sind 23 Jahre alt. Sie wurden 1993 bei der Schaffung des gemeinsamen Binnenmarktes und dem Wegfall der Grenzkontrollen in der EU eingeführt. Eigentlich waren sie nur für den Übergang gedacht. Doch in Kraft sind sie bis heute.

Betrug kostet den Fiskus 50 Milliarden Euro

Die Schwachstelle ist der Handel über Landesgrenzen, denn dabei fällt laut den aktuellen EU-Regeln keine Mehrwertsteuer an. Für Betrüger ist es eine Einladung: Sie kaufen ein Produkt, zum Beispiel Handys, steuerfrei aus dem EU-Ausland, zum Beispiel Holland. Beim Weiterverkauf an einen Händler in Deutschland schlägt der deutsche Importeur dann wie vorgeschrieben die Mehrwertsteuer auf und „behält sie ein. Statt sie aber beim Finanzamt abzuliefern, verschwindet er mit der Steuer – „Missing Trader Fraud“ heißt die Masche deshalb. Sie lohnt sich nur, weil der deutsche Händler dank EU steuerfrei aus Holland importieren, beim Weiterverkauf in Deutschland aber Steuern berechnen und einbehalten darf. Die Differenz ist sein Gewinn.

Richtig profitabel wird die Masche, wenn alle Beteiligten die Handys im Kreis von Holland nach Deutschland und zurück verkaufen und sich den Gewinn des Importeurs teilen, der irgendwann verschwindet. Dann kommt der Betrug richtig ins Rollen: Der letzte Kriminelle in der Kette verschiebt die Handys zurück nach Holland, und der Importeur kann sie zum zweiten Mal einführen und weiterverkaufen – und den Fiskus erneut erleichtern. 50 Milliarden Euro gehen den Finanzämtern laut EU-Kommission jährlich durch solche Umsatzsteuerkarusselle verloren.

Sie drehen sich solange, bis der Fiskus Verdacht schöpft. Dann ist der Importeur meist längst spurlos verschwunden. Und teilt seinen Gewinn heimlich mit den anderen Betrügern in der Kette. Die erscheinen wie legale Firmen, weil sie alle Steuern korrekt gezahlt und abgeführt haben. Dabei haben sie den Handel erst in Schwung gebracht, indem sie dem „Missing Trader“ am Anfang der Kette seine „Hehlerware“ abgekauft haben.

Für die Finanzämter ist der Betrug extrem schwierig zu entdecken, weil die Kriminellen ihre Firmen ständig wechseln. Und die Ermittler nachweisen müssen, dass es sich nicht um normale Verkäufe handelt, sondern Transaktionen zur Steuerhinterziehung, bei denen die Beteiligten heimlich unter einer Decke stecken. Zur Tarnung werden oft auch ehrliche Firmen in die Kette eingespannt, ohne es zu wissen. Sie erfahren häufig erst davon, wenn die Fahnder anklopfen.

Lieber plündern lassen als einigen

Die Ermittler sind machtlos, weil der Fehler im System steckt. Als es 1993 beschlossen wurde, steckten Globalisierung und grenzüberschreitender Handel noch in den Kinderschuhen. Online-Geschäfte gab es nicht. Internationale Transaktionen fielen nicht ins Gewicht. Also bemühte man sich gar nicht erst, sie zu besteuern.

Einerseits war das praktisch: Die EU-Länder ersparten sich ein kompliziertes Verfahren, in dem die Finanzministerien der einzelnen Staaten ihre Mehrwertsteuerschulden miteinander verrechnen müssen. Andererseits öffneten sie dem Betrug Tür und Tor. Denn das System beruht auf Vertrauen. Und geht von der Ehrlichkeit aller Beteiligten aus.

Die EU will den Systemfehler schon lange beheben. Seit 2011 werkeln die Brüsseler Bürokraten bereits an der Reform. Künftig soll auch bei grenzüberschreitenden Geschäften wie bei Verkäufen im Inland Mehrwertsteuer anfallen – und zwar in Höhe des Mehrwertsteuersatzes des Landes, in das die Waren verkauft werden. Erhoben werden soll die Steuer dann von den Finanzämtern im Verkäuferland und an den Fiskus des Empfängerlandes weitergereicht werden. Das will Brüssel den EU-Ländern nach jahrelangem Gezerre nun endlich vorschlagen.

Dass das Schlupfloch noch nicht gestopft wurde, liegt an der Uneinigkeit der EU-Finanzminister. Sie müssen sich einigen, wer wie viel vom Mehrwertsteuerkuchen abbekommt: welcher Satz beim grenzüberschreitenden Handel gilt und welches Land die Mehrwertsteuer behalten darf. Kein Land will nachgeben. Denn die Mehrwertsteuer ist in den meisten Staaten die wichtigste Einnahmequelle des Fiskus.

Das jahrzehntelange Staatsversagen ist also eine direkte Folge des Steuerwettbewerbs zwischen den EU-Ländern. Sie blockieren die Reform aus Eigeninteresse. Sie lassen sich seit Jahrzehnten lieber von Kriminellen ausplündern, statt sich zu einigen. Womöglich wird sich auch 2017 daran nichts ändern. In Steuerfragen müssen alle EU-Länder einstimmig entscheiden.

von

Günter Schwarz – 09.09.2016