Das Volkslied „Hänschen klein ging allein“ dringt durch die Küchentür der Tagespflege Neuwerk in Rendsburg. Wie jeden Nachmittag hat Comfort Boateng die Liederbücher ausgeteilt. Nun hilft sie einer älteren Dame, die nicht rechtzeitig die Seite findet. Schnell springt sie zur Nächsten, um ihr eine Tasse Kaffee einzuschenken und singt kräftig mit. Seit drei Wochen macht die 44 Jahre alte Frau aus Ghana ein Praktikum in der Einrichtung: „Ich kümmere mich gerne um alte Leute. Alle sind so nett. Außerdem möchte ich von Herzen gerne helfen.“

Sprachbarrieren verhindern berufliche Perspektive

Boateng würde gerne dauerhaft in der Altenpflege arbeiten, aber ihre fehlenden Deutschkenntnisse machen ihr bisher einen Strich durch die Rechnung. Jörg Klahn, der die 44-Jährige während ihres Praktikums betreut, kennt das Problem: „Gerade im Umgang mit Demenzkranken ist das schwierig, wenn die Pflegekräfte nicht richtig deutsch sprechen.“ Auf der einen Seite fehlen in Schleswig-Holstein in Krankenhäusern und Altenpflegeheimen schon jetzt mehr als 1.100 ausgebildete Pflege- und Hilfskräfte. Die Arbeitsagentur geht davon aus, dass bis zum Jahr 2020 sogar bis zu 4.000 zusätzliche, examinierte Pflegekräfte gebraucht werden. Auf der anderen Seite leben viele Flüchtlinge in Deutschland, die sich eine berufliche Perspektive wünschen. Doch bisher stellen fehlende Deutschkenntnisse oft ein unüberbrückbares Hindernis dar.

20 Flüchtlinge auf dem Weg zu Pflegehelfern

An diesem Punkt setzt ein neues Projekt des IQ-Netzwerk Schleswig-Holstein an. Von heute an werden 20 Flüchtlinge – Frauen und Männer – zu Pflegehelfern qualifiziert. Mit dabei ist auch Comfort Boateng. Ein halbes Jahr lang bekommt sie Unterricht in Pflege. Sie lernt zum Beispiel wie man Patienten im Bett richtig umdreht, wie man Essen anreicht und Erste Hilfe leistet. Zusätzlich steht an zwei Tagen in der Woche Deutsch auf dem Stundenplan. „Wir verbinden dann die Inhalte aus der Pflege mit dem Deutschunterricht. Da werden dann zum Beispiel die entsprechenden Vokabeln vor- und nachbereitet“, sagt Projektleiterin Marie Pagenberg.

Projektleiterin hat keine Bedenken

Sie ist überzeugt, dass das Projekt einen wichtigen Beitrag zum Fachkräftemangel leisten kann. Denn anders als in Deutschland sei in vielen Herkunftsländern die Wertschätzung gegenüber alten Menschen sehr groß. „Viele der Teilnehmer haben zwar bisher keine Berufserfahrung in der Pflege, aber dafür haben sie häufig schon Verwandte gepflegt und dadurch einen viel natürlicheren Umgang mit alten Menschen“, sagt Pagenberg. Bedenken, dass es aufgrund kultureller oder religiöser Unterschiede – wenn zum Beispiel eine muslimische Frau einen fremden Mann waschen soll – kommen könnte, hat die Projektleiterin nicht. „Alle Teilnehmer nehmen freiwillig an dem Kurs teil und haben eine Ahnung davon, was Altenpflege in Deutschland bedeutet.“

Geringe Motivation von Jugendlichen

Auch für die Arbeitsagentur spielen Flüchtlinge eine wichtige Rolle, um dem Fachkräftemangel Herr zu werden. „Die Motivation zur Wahl eines Pflegeberufes ist derzeit bei Jugendlichen äußerst gering ausgeprägt. Insbesondere im Bereich der Altenpflege ist das Image sehr schlecht“, sagt der Sprecher der Regionaldirektion Nord der Arbeitsagentur, Horst Schmitt. Pflegeberufe müssten deshalb zum Beispiel durch eine bessere Bezahlung attraktiver und Abschlüsse ausländischer Bewerber schneller anerkannt werden. „Es müssen alle ungehobenen Potentiale des Arbeitsmarktes – darunter Flüchtlinge, Berufsrückkehrer, Alleinerziehende und Männer – angesprochen werden.“

Hilfskräfte in Pflegeeinrichtungen

Ein halbes Jahr dauert der Kurs des IQ-Netzwerks. Läuft alles nach Plan, erhalten die Teilnehmer ein Zertifikat als Pflegehelfer und dürfen dann in Krankenhäusern oder Altenpflegeeinrichtungen arbeiten. „Wegen des Fachkräftemangels arbeiten viele Einrichtungen auch mit Hilfskräften. Da gibt es sogar einen eigenen Mindestlohn, der bei 10,20 Euro pro Stunde liegt. Das ist also eine echte Chance“, sagt Pagenberg.

Comfort Boateng hat inzwischen einer Frau mit Bauchschmerzen ein Körnerkissen warm gemacht und streichelt ihr liebevoll über den Arm. „Sie macht die fehlenden Deutschkenntnisse durch ihre Art und Weise wett. Frau Boateng wird geliebt“, sagt Pflegedienstleiter Jörg Klahn. Trotz des Lobes will die lebensfrohe Frau aus Ghana während des Kurses vor allem ihr Deutsch verbessern. Ihr Traum: Eine Anstellung als Pflegerin zu finden, die Familie selbst ernähren zu können und nicht mehr auf staatliche Hilfe angewiesen zu sein.

von

Günter Schwarz – 13.09.2016