Die Festnahmen und Anti-Terror-Razzien im Großraum von Hamburg und Lübeck am Dienstagmorgen zeigen, für den IS war es erschreckend leicht, während der großen Flüchtlingswelle auch Terroristen mit nach Deutschland und Europa einzuschleusen.

Plötzlich ging alles sehr schnell. Am frühen Dienstagmorgen, noch vor Sonnenaufgang, rückten rund 200 Polizeibeamten von Bundeskriminalamt (BKA), GSG-9 und den Landeskriminalämtern Schleswig-Holstein, Hamburg und Niedersachsen aus. Sie stürmten sechs Wohnungen und Flüchtlingsheime. Ziel der Aktion im hohen Norden der Bundesrepublik waren drei Männer: Mahir al-H., 17, Mohamed A., 26, und Ibrahim M., 18, angebliche Flüchtlinge aus Syrien.

Festgenommen wurden sie in Erstaufnahmeeinrichtungen in Rheinfeld, Großhansdorf und Ahrensburg in Schleswig-Holstein. Sie sollen Mitglieder der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) sein. In einer Mitteilung der Bundesanwaltschaft heißt es, die Festgenommenen seien dringend verdächtig, im Auftrag des IS nach Deutschland gekommen zu sein, „um entweder einen bereits erhaltenen Auftrag auszuführen oder sich für weitere Instruktionen bereitzuhalten“.

Der phoenix-Moderator Helge Fuhst im Schaltgespräch mit Terrorexperte Elmar Theveßen zu den Hintergründen des Terrors und zu den Festnahmen von mutmaßlichen IS-Terroristen in Schleswig-Holstein.

Erste Instruktionen schon in Syrien

Es war nicht das erste Mal, dass Beamte in den vergangenen Monaten in Asylunterkünften einrückten und mutmaßliche Terroristen festnahmen. Ein Jahr, nachdem die Flüchtlingszahlen ihren Höhepunkt erreichten – im Herbst 2015 kamen an manchen Tagen mehr als 10.000 Asylsuchende ins Land –, ist klar: Es war nur eine Hoffnung, dass der IS seine Kämpfer nicht unter die Flüchtlinge mischt. Auch die jetzt Festgenommenen wählten die Balkanroute, um ins Herz Europas zu gelangen. Dabei wird ein Muster immer deutlicher; in Syrien werden erste Instruktionen gegeben. Mit ausreichend Geld und gefälschten Pässen geht es danach auf die Reise.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) lobte die Arbeit der Polizei und des Verfassungsschutzes im Fall des terrorverdächtigen Trios. Man habe die Männer „in großem Umfang überwacht“, was „enorm viele Kräfte“ gebunden habe. Die Festnahme sei erfolgt, um möglichen Schaden von der Bevölkerung abzuwenden. Es habe sich womöglich um eine „Schläferzelle des IS“ gehandelt.

Laut Bundesanwaltschaft hatte sich der 17-jährige Mahir al-H. im September 2015 der Terrormiliz angeschlossen und im syrischen Rakka eine Ausbildung an Waffen und Sprengstoff erhalten. Im Oktober 2015 sollen al-H., Mohamed A. und Ibrahim M. dann von einem IS-Terroristen, der für Anschläge im Ausland zuständig sein soll, nach Europa entsandt worden sein.

„Hierzu wurden sie mit vom IS bereitgestellten Pässen ausgestattet und erhielten höhere vierstellige Bargeldbeträge in amerikanischer Währung sowie Mobiltelefone mit vorinstalliertem Kommunikationsprogramm“, teilte die Bundesanwaltschaft mit. Über die Türkei und Griechenland sollen die drei IS-Dschihadisten dann über die Balkanroute bis nach Deutschland weitergereist sein.

In Deutschland eher unauffällig verhalten

Innenminister de Maizière erklärte, es gebe eine Verbindung zu den Paris-Anschlägen im November 2015. Die festgenommenen Verdächtigen hätten beispielsweise falsche Ausweispapiere besessen, die wohl aus „der gleichen Werkstatt“ stammten wie Pässe, die von den Paris-Attentätern verwendet worden waren. Außerdem seien sie wohl vom gleichen Schleusernetzwerk nach Europa gebracht worden, sagte de Maizière.

Vorangegangen waren den Festnahmen in Schleswig-Holstein monatelange, zum Teil aufwendige Ermittlungen des BKA. Nach einem Hinweis des Verfassungsschutzes war bei der Behörde die Ermittlungsgruppe (EG) „Galaxy“ ins Leben gerufen worden. Es wurden Telefone abgehört, Verdächtige observiert und weitere Kontaktpersonen ermittelt – jedoch ohne eindeutiges Ergebnis.

„Konkrete Aufträge oder Anweisungen konnten bislang durch die durchgeführten Ermittlungen nicht festgestellt werden“, gesteht auch die Bundesanwaltschaft ein. Aus Ermittlerkreisen heißt es, die drei angeblichen Syrer hätten sich während ihrer Zeit in Deutschland eher unauffällig verhalten; Kontakt miteinander hätten sie wohl nicht gehabt. Innenminister de Maizière betonte am Dienstag, es habe zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr für die Bevölkerung bestanden.

415 Hinweise auf mögliche Terroristen

Terroristen als Flüchtlinge getarnt – dieses Szenario beschäftigt deutsche Sicherheitsbehörden seit Monaten. Hunderttausende Menschen kamen im vergangenen Jahr ins Land, die meisten davon unregistriert und nicht überprüft. Eine Horrorvision für viele Sicherheitsverantwortliche bei Polizei und Geheimdiensten.

Das BKA geht aktuell 415 Hinweisen auf mögliche Terroristen unter den Flüchtlingen nach. Der weit überwiegende Teil erwies sich bislang als absichtliche Falschbeschuldigung oder schlichtweg als Verwechslung. In 63 Fällen aber wurden bereits Ermittlungsverfahren eingeleitet. Und auch Festnahmen von terrorverdächtigen Asylbewerbern gab es schon.

Im Februar meldete sich in Paris ein syrischer Asylbewerber bei der Polizei. Er erklärte, er sei ein Teil eines IS-Terrorkommandos, das Anschläge in Deutschland verüben solle. Konkret soll es dabei um Attentate in der Altstadt von Düsseldorf gegangen sein. Wochenlang wurde ermittelt; dann nahmen Polizeieinheiten die angeblichen Mitverschwörer des Hinweisgebers in Asylunterkünften in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg fest. Ob der Fall jemals zur Anklage kommen wird, ist allerdings fraglich. Die Beweislage soll äußerst dünn sein.

Im April griffen Fahnder in Aachen den Algerier Bilal C. auf. Der Asylbewerber war wegen Handtaschendiebstahl und anderer kleinerer Delikte aufgefallen. Mittlerweile ermittelt die Bundesanwaltschaft gegen ihn wegen Terrorverdachts. Er soll im Sommer 2015 vom IS beauftragt worden sein, die Flüchtlingsrouten nach Europa auszukundschaften und über etwaige Grenzkontrollen zu berichten. Dem gescheiterten Attentäter aus dem Thalys-Schnellzug, Ayoub el-Khazzani, soll Bilal C. sogar genaue Instruktionen bei dessen Rückreise von Syrien nach Europa gegeben haben.

Zuletzt wurde Anfang August im rheinland-pfälzischen Mutterstadt ein 24-jähriger Syrer unter Terrorverdacht festgenommen, der Anfang 2016 nach Deutschland gekommen war. Laut einem Hinweis eines inhaftierten Asylbewerbers soll der Mann im Auftrag des IS einen Anschlag in der Bundesrepublik geplant haben. Dafür aber fanden die Ermittler keinerlei Beweise. Der Verdächtige kam wieder auf freien Fuß.

Blanko-Ausweise als Reisedokumente

Spätestens seit den Anschlägen von Paris und Brüssel verfolgen Sicherheitsbehörden intensiv die Spur von Terroristen, die als Flüchtlinge getarnt aus dem Nahen Osten eingeschleust worden sein könnten. Der IS, das ergaben die Ermittlungen zu den Pariser Attentaten, hatte im vergangenen Spätsommer und Herbst die chaotische Situation an den europäischen Außengrenzen ausgenutzt und mehrere Dschihadisten heimlich nach Europa gebracht.

Zwei Selbstmordattentäter, die sich am 13. November 2015 vor dem Fußballstadion Stade de France in Paris in die Luft gesprengt hatten, waren Anfang Oktober 2015 auf einem Flüchtlingsboot von der Türkei aus nach Griechenland gekommen. Sie hatten syrische Pässe bei sich, die IS-Terroristen als Blanko-Ausweise erbeutet hatten und mit ihnen Reisedokumente aefertigten.

Zwei weitere Terrorverdächtige, die sich ebenfalls auf dem Flüchtlingsboot befunden hatten, waren Frontex-Beamten in Griechenland aufgrund ihrer gefälschten syrischen Pässe aufgefallen. Die Männer, ein Algerier und ein Pakistaner, wurden kurzzeitig inhaftiert, durften dennoch weiterreisen. Auch sie zogen über die Balkanroute gen Norden und wurden im Dezember 2015 in einem Flüchtlingsheim im österreichischen Salzburg aufgespürt. Ein dritter Verdächtiger, ein Algerier, wurde erst im Juli dieses Jahres in Belgien gefasst.

IS besitzt zahllose Blanko-Ausweise

Wie viele IS-Dschihadisten im vergangenen und vielleicht auch in diesem Jahr aus Syrien oder dem Irak eingesickert sind, wagt in Sicherheitskreisen niemand zu beziffern. Einige Geheimdienstler verweisen auf die angebliche Aussage des belgischen IS-Terroristen Abdelhamid Abaaoud. Der mutmaßliche Kopf der Pariser Terrorzelle soll im November, kurz vor seinem Tod bei einer Polizeiaktion in St. Denis, einer Zeugin gesagt haben, er sei „mit 90 Kämpfern“ aus Syrien nach Europa gekommen.

Besondere Sorge bereitet den Sicherheitsbehörden die Tatsache, dass der IS in Syrien und dem Irak offenbar zahllose Blanko-Ausweise und sogar Maschinen zur Passherstellung erbeutet hat. Das syrische Regime von Baschar al-Assad und die irakische Regierung haben in den vergangenen Monaten immer wieder Listen mit den Passnummern der gestohlenen Ausweise an Interpol übermittelt. Aktuell sollen sich rund 5000 syrische und 250.000 irakische Pässe im Interpol-Fahndungssystem befinden.

Einige IS-Mitglieder seien womöglich mit einem Terrorauftrag eingeschleust worden, mutmaßt ein deutscher Ermittler, hätten sich dann aber höchstwahrscheinlich anders entschieden und hegten wohl keinerlei terroristischen Absichten mehr. „IS-Flüchtlinge“ nennt der Ermittler diese Personen scherzhaft. Ein unnötiges Risiko eingehen aber will derzeit niemand. Die Festnahmen in Schleswig-Holstein werden also wohl nicht die letzten in Asylunterkünften gewesen sein.

von

Günter Schwarz – 15.09.2016