Wenn linke Parolen nicht mehr zünden
Der Widerspruch ist immens. Die AfD will Hartz IV an soziale Arbeit knüpfen und den Mindestlohn streichen. Trotzdem winkt ihr gerade im armen Berlin-Marzahn ein Wahlsieg. Die Linke verzweifelt. „Wissen Sie schon, was Sie wählen?“ Auf die Frage antwortet das Paar um die 50 gleichzeitig mit einem genervten Schnauben. „Nee, was soll man schon wählen?“, sagt der Mann und zieht seine Frau weiter.
Wolfgang Brauer von der Linkspartei steht an seinem Wahlkampfstand auf dem Parkplatz einer Einkaufspassage, sieht den beiden hinterher und zuckt mit den Schultern: „Viele Leute hier erwarten nichts mehr von der Politik.“ Hier, das ist Berlin-Marzahn, ein Ortsteil im Osten der Hauptstadt. Plattenbauten und viel Grün prägen das Straßenbild.

Wolfgang Brauer, Linke Berlin-Marzahn.

Viel verdienen die Menschen nicht, die in diesen Wohnungen in Marzahn wohnen.
In Mecklenburg-Vorpommern waren es zum Beispiel 18.000 ehemalige Linke-Wähler, die ihr Kreuz bei der AfD machten. Bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am 18. September werden die Rechtspopulisten der Linken wohl erneut Wähler abspenstig machen.
Linke als Teil des „Systems“
Warum schafft es die AfD besser als die Linke, die Unzufriedenen anzusprechen? „Für viele Menschen ist die Linke keine glaubhafte Stimme des Protests mehr“, sagt Gero Neugebauer, Parteienforscher an der Freien Universität Berlin und Experte für die Linkspartei. Sie werde inzwischen als Teil des „Systems“ wahrgenommen, etwa in Hinblick auf die Flüchtlingspolitik.
Diesen Eindruck bestätigt auch Brauer. Zwar kritisiert die Linke die Bundesregierung in der Flüchtlingskrise. Aber wie alle Parteien im Bundestag – mit Ausnahme der CSU – ist sie gegen einen Aufnahmestopp und abgeriegelte Grenzen. Oft höre er die Formulierung „Ihr und Merkels Flüchtlingspolitik…“
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Der Neubau von Flüchtlingsunterkünften in der Gegend weckt bei vielen Menschen Abstiegsängste. Brauer deutet auf den Eingang des Supermarktes: „Es gibt hier Leute, die machen ihren Wochenendeinkauf mit fünf Euro. Wenn man denen sagt: ,Euch geht es doch vergleichsweise gut‘, dann klingt das zynisch.“ Die Flüchtlinge leben am Existenzminimum, viele Menschen hier im Wahlkreis auch – obwohl sie zum Teil 40 Jahre lang für ihre Rente gearbeitet haben. Das finden viele ungerecht und weckt zudem Befürchtungen, dass es nicht für beide Gruppen reichen könnte.
„Wenn ich nachfrage: ,Was wird euch denn konkret weggenommen, wenn die Flüchtlinge kommen?‘, dann kriege ich keine Antwort“, sagt Brauer. „Aber das Gefühl und die Angst sind eben da.“
„Jetzt zeigen wir es denen mal“
Was in seinem Bezirk um sich greife, sei ein „Streupilz des Irrationalismus“, sagt Brauer. Wieder zuckt er mit den Schultern. „Dagegen kommt man nicht an. Die wollen einfach ein Zeichen setzen: ,Jetzt zeigen wir es denen mal‘.“
Zu den Menschen, die es „denen“ mal zeigen wollen, gehört Linda B., 56, eine resolute Frau mit kurzen, blond gefärbten Haaren. Zehn Gehminuten von Brauers Wahlkampfstand entfernt, steht sie vor einem anderen Supermarkt neben dem Wahlkampfstand der AfD. „Ich wähle die aus Protest, das sage ich ganz ehrlich.“ Hört man ihr fünf Minuten lang zu, trifft man auf eine Mischung aus realen Sorgen, Floskeln, diffusen Ängsten und tagtäglichen Problemen: „Schachernde Politiker“, Plastiktütenverbot, Wirtschaftsflüchtlinge, Groll gegen „die Medien“, die Debatte um das Stadtschloss.
Die AfD schafft es, diese Stimmung zu kanalisieren, und erreicht damit auch Menschen, die für die anderen Parteien nicht mehr zu erreichen sind. Christian Stoll, 32, Gebäudereiniger, hat nach eigener Aussage noch nie gewählt. „Ich war immer der Meinung, das bringt nichts.“ Doch diesmal wolle er für die AfD stimmen: „Es muss sich etwas ändern.“ In Mecklenburg-Vorpommern stieg auch dank der ehemaligen Nichtwähler die Wahlbeteiligung. Jeder Dritte von ihnen stimmte für die Rechtspopulisten.
Von dieser Stimmung getragen, hofft Gunnar Lindemann auf „20 plus X Prozent“. Der massige und häufig verschmitzt lächelnde Mann ist der Direktkandidat der AfD hier im Wahlkreis. Lindemann hat den Abgeordnetensitz von Wolfgang Brauer im Visier. Der 47-Jährige glaubt an ein Kopf-an-Kopf-Rennen.
In der Bezirksverordnetenversammlung von Marzahn-Hellersdorf, die ebenfalls am Sonntag gewählt wird, wird die AfD einen Stadtrat stellen, das steht so gut wie fest. Lindemann: „Wir wollen hier vor Ort mitregieren und die Dinge in die richtige Richtung lenken.“ Besonders die Schulen seien ihm wichtig. „Es gibt viele Klassenräume, die dringend saniert werden müssten“, sagt er. Zudem falle zu viel Unterricht aus, weil die Lehrer in Willkommensklassen einspringen müssten.
Der Widerspruch fällt den Menschen nicht auf
Während die meisten Menschen ohne einen Seitenblick an Wolfgang Brauer vorbeihasten, treten viele Menschen interessiert an Lindemanns AfD-Stand heran. Um den Wahlkampf zu unterstützen, ist auch die Landesvorsitzende Beatrix von Storch gekommen.

AfD-Wählern fällt der massiv geplante Sozialabbau der Partei nicht auf
Warum stimmen dann gerade Menschen mit wenig Geld für die AfD? Auch Parteienforscher Neugebauer ist ratlos. „Man kann und muss sich nur wundern.“
„Wir haben verlernt, die Gefühle anzusprechen“
Von solchen Vorschlägen wie denen der AfD ist man bei der Linken weit entfernt. Wie will die Partei wieder mehr Wähler aus sozial schwachen Wählerschichten anzusprechen? „Vielleicht war in letzter Zeit unsere Sprache zu kopflastig. Wir haben verlernt, die Gefühle anzusprechen“, sagt Brauer selbstkritisch.
Nach der Wahl wird die Linke aller Voraussicht nach zusammen mit der SPD und den Grünen in Berlin die Regierung bilden. „Dann können wir uns aktiv für mehr soziale Gerechtigkeit einsetzen“, sagt Brauer. Gerade die „abgehängten Stadtteile“ sollen dann mehr Aufmerksamkeit erhalten.
Dass das auf Dauer reichen wird, um die Konkurrenz durch die rechte Partei auszuschalten, glaubt Brauer aber nicht: „Die AfD ist keine Eintagsfliege, mit der werden wir hier noch länger zu tun haben.“
von
Günter Schwarz – 18.09.2016