Brexit, AfD, Dansk Folkeparti, Front National, PIS, Orbán, Zeman, Le Pen, Petry und Trump in den USA sind Zeichen einer Revolte der Abgehängten, die den Westen schwerer trifft als die Euro-, die Finanz- oder die Flüchtlingskrise. Wir haben es nur noch nicht begriffen!

Wir stecken zwar noch mittendrin. Das gesamte Ausmaß der Katastrophe sowie ihr Ausgang sind noch lange nicht absehbar. Es wird noch dauern, bis sich aus der erhellenden Perspektive des Nachhineins zeigt, was genau am 23. Juni in Großbritannien passiert ist und was womöglich am 8. November in den USA passieren wird.

Doch schon jetzt ist klar, dass diesmal alles anders ist. Die derzeitige Krise der westlichen Welt ist gewaltiger. Der Schock sitzt tiefer. Das Brexit-Votum in Großbritannien und die Trump-Kandidatur allein sind ein Doppelschlag, der die herrschende Ordnung schon schwerer erschüttert als alle anderen Krisen, die der Westen seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gemeistert hat.

Dabei waren es weiß Gott nicht wenige. Finanz-, Euro- und Flüchtlingskrisen sind nur die jüngsten, vom islamistischen Terror ganz zu schweigen. Doch diese Notsituationen sind im Vergleich zur Brexit-Trump-Krise erheblich leichter zu überwinden. Sie zwingen die Politik dazu, rasch zu handeln. Das gemeinsame Ziel, den Status quo so schnell wie möglich wieder herzustellen, eint und stabilisiert.

Der Zwang zu handeln schlägt zwar häufig in Aktionismus um. Doch so entsteht wenigstens das beruhigende kollektive Gefühl, dass etwas getan wird. Terroranschläge, Kreditklemmen, Kriege, Züge voller Flüchtlinge und Bankpleiten schreien nach schnellen Lösungen und lassen keine Zeit zum Nachdenken.

Es herrscht eine lähmende Ohnmacht

Brexit und Trump dagegen sind Angelegenheiten, die nicht auf Krisengipfeln gelöst werden können. Sie bergen nicht einmal die Versuchung des Aktionismus. Im Gegenteil: Nachdem die Brexit-Entscheidung in Großbritannien ein politisches Erdbeben ausgelöst und die Regierung hinweggefegt hat, breitet sich eine lähmende Ohnmacht aus. Die neue Regierung unter Theresa May hat keine Ahnung, wie sie den Mehrheitswillen der Bevölkerung ausführen und den Austritt aus der EU vollziehen soll. Das Maß an politischer Hilflosigkeit, das sich derzeit in London offenbart, ist beispiellos.

Auf der anderen Seite des Atlantiks kann Trumps Einzug ins Weiße Haus vielleicht noch verhindert werden. Doch selbst wenn er am Wahltag verlieren sollte, eine Lösung der Krise, ein Mittel gegen die Revolte des Volks, gegen die Wut der Abgehängten und Verlierer, die in seiner Kandidatur genauso zum Ausdruck kommt wie im britischen Brexit-Votum, hat niemand zur Hand.

So kommt es, dass die Brexit-Trump-Krise im Gegensatz zu allen anderen keine hektische Betriebsamkeit auslöst, keine Regierungserklärungen, keine Pressekonferenzen von Krisenstäben, keine Parlamentsdebatten – kurz: keine Ablenkung. Stattdessen passiert im angelsächsischen Raum etwas, was schon lange nicht mehr da gewesen ist. Es ist, als ob die Schockstarre angesichts von Brexit und Trump den notwendigen Raum geschaffen hat, den Vordenker brauchen, um gehört zu werden.

Die liberale Ordnung wird infrage gestellt

Die öffentliche Debatte, die sich derzeit in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten entfaltet, schürt so tief, ist so kritisch und geht so radikal ans Eingemachte wie zuletzt zu Zeiten des Kalten Kriegs. Die damalige Auseinandersetzung zwischen rechts und links hatte der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama im Jahr 1989 für beendet erklärt. Er berief sich auf Hegels Idee des progressiven Geschichtsverlaufs, nach der weniger gute Gesellschaftsformen von besseren abgelöst werden. Mit dem Triumph der liberalen Demokratie sei das „Ende der Geschichte“ erreicht, die höchste Form der ideologischen Evolution. Besser, erklärte Fukuyama damals, geht es nicht.

Doch mittlerweile hat der Professor aus Stanford seinen Glauben an die Unfehlbarkeit der herrschenden Verhältnisse verloren. Fukuyama hat sozusagen das Ende des Endes der Geschichte ausgemacht – und mit ihm nehmen zahlreiche weitere Denker den Faden der Systemkritik wieder auf.

Die liberale Ordnung wird nicht nur von Trump-Anhängern und Brexit-Befürwortern infrage gestellt, sondern zunehmend auch von führenden Wissenschaftlern und Kommentatoren, zu deren beeindruckenden Stärken es gehört, ihre Meinung zu ändern – und damit den Zeitgeist. Wirtschaftliche Stagnation, Austeritätspolitik, unregulierte Immigration, wachsende Ungleichheit und gleichzeitig mangelnde demokratische Repräsentanz für die Verlierer – das sind die gefährlichsten Mängel, die ehemalige Verfechter des neoliberalen Systems diagnostizieren.

Forderungen nach einem stärkeren Staat

Es sei nicht erstaunlich, dass Populisten derzeit so viel Zulauf bekämen, schreibt Fukuyama im amerikanischen Magazin „Foreign Affairs“. Es sei vielmehr ein Wunder, dass es erst jetzt passiere. Dabei hütet er sich davor, die sogenannten Populisten pauschal zu verurteilen. „Populismus ist das Etikett, das politische Eliten jenen Bewegungen verleihen, die sie nicht mögen, obwohl sie von normalen Bürgern unterstützt werden.“

Auch Martin Wolf, Chefkommentator der britischen „Financial Times“, war bislang bekannt als überzeugter und überzeugender Anhänger des freien Markts. Jetzt, nach dem Brexit-Votum, fordert Wolf einen stärkeren Staat. Nur so seien die falschen Lösungen der Populisten – Nationalismus und Protektionismus – zu entkräften. „Reformiert den Kapitalismus“, schreibt Wolf. Das Finanzsystem sei geplagt von „perversen Anreizen“, die Interessen der Shareholder würden gegenüber anderen Interessen überbewertet, der Staat müsse Kapitaleigner höher besteuern und dafür sorgen, dass die Löhne der Armen stiegen. Vom „trickle-down effect“, nach dem irgendwann alle vom Vermögen der Reichen profitieren, ist keine Rede mehr. Wolf fordert altmodische staatliche Umverteilung.

Dabei beruft er sich ausgerechnet auf eine Studie des McKinsey Global Institute über sinkende Reallöhne in der westlichen Welt. Selbst die Beratungsfirma setzt derzeit ihre Ressourcen dazu ein, um die Schwächen des Wirtschaftssystems auszuleuchten.

Die Welt wird mit anderen Augen gesehen

Voll im Trend und voll der Kritik an den Folgen globaler Deregulierung ist auch der britische „Economist“. Das liberale Magazin zitiert in seiner jüngsten Ausgabe den Mitgründer von PayPal, Peter Thiel, mit den Worten: „Wettbewerb ist nur etwas für Loser.“ Dabei soll Wettbewerb nach der liberalen Theorie die Antriebskraft allen Wachstums sein. Entsprechend eindringlich warnt das Blatt vor dem unkontrollierten Wachstum von Monopolisten wie Google, Facebook und Apple, die immer dominanter werden, immer skrupelloser und immer weniger Steuern zahlen.

So scheint Trumps Nominierung in den USA und das Brexit-Votum in Großbritannien der angelsächsischen Welt einen derartigen Schock versetzt zu haben, dass sie sich plötzlich mit anderen Augen sieht.Innerhalb weniger Wochen hat sich die Debatte spürbar verschoben. Der Prozess des Weltgeistes, würde Hegel sagen, setzt sich fort. Die Geschichte geht weiter.

von

Günter Schwarz – 22.09.2016