Gestern feierte Deutschland seinen „Tag der Deutschen Einheit“. Seit der Wiedervereinigung vor 26 Jahren am 3. Oktober 1990 ist es der Nationalfeiertag. Doch von Einheit ist zurzeit nicht viel zu spüren. Das ganze Land und seine politischen Repräsentanten aus dem Bund und aus den Ländern sind aufgewühlt und konfus.

Das mit der Einheit ist so eine Sache. Ein Großaufgebot von 2600 Polizisten standen in Dresden im Einsatz, 1400 Betonsperren wurden aufgestellt. Bundeskanzlerin Merkel und Bundespräsident Gauch wurden heute ausgepfiffen, mit Rufen „Merkel muss weg!“ und „Haut ab!“ empfangen.

Deutschland am 3. Oktober 2016 ist ein Land überwältigt von Emotionen, die hochkochen. Selbst Physikerin und jetzige Bundeskanzlerin Angela Merkel musste das unlängst zur Kenntnis nehmen. „Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten. Sie folgen allein die Gefühlen.“

Ein ganz besonderer Herbst

Nun sind Gefühle genauso real wie Fakten. Und wie, denn mindestens 12 Prozent würden AfD wählen, wäre morgen Bundestagswahl. Und die AfD ist die Partei Emotionen. Zwei Drittel ihrer Wähler sagen von sich selbst, dass sie nur aus Protest, Ärger und Wut für die AfD stimmen.

Fakten spielen im Herbst 2016 in Deutschland eine überraschend geringe Rolle. Zum Beispiel tut die CSU noch immer so, als ob Zehntausende Flüchtlinge an der bayerischen Grenze stehen. Anfänglich agierte CSU-Ministerpräsident Seehofer aus Sorge, ob Bayern den Flüchtlingsstrom bewältigen könne. Heute scheint es ihm mehr um die Macht und die Sorge vor der AfD zu gehen. Obwohl der Erfolg einer Protestpartei wie der AfD auch rasch in sich zusammenfallen kann.

Von der Willkommenskultur bis zu den Obergrenze

Tatsache ist, dass Deutschland ein Jahr nach Beginn der Flüchtlingskrise 890.000 Menschen aufgenommen hat und dass das anfängliche Chaos vorbei ist. Alle Flüchtlinge haben ein Dach über dem Kopf. Sie sind alle registriert, allerdings nicht integriert. Frank-Jürgen Weise, der Chef der Bundesagentur für Arbeit und des Bundesamts für Flüchtlinge, der wichtigste staatliche Manager der Stunde: „Es hat jetzt ein knappes Jahr gedauert. Wir sind mit unserem Standards wieder so, was man von Deutschland erwarten kann.“

Das wäre eigentlich ein Grund, sich auf die Schultern zu klopfen. Dass dies nicht der Fall, liegt auch an Merkel, denn fast ein Jahr lang ließ sie sich für eine Willkommenskultur feiern, obwohl schon eine Woche nach den denkwürdigen Jubelszenen am Münchner Hauptbahnhof Innenminister de Maiziere erstmals auf die Bremse trat. Deutschland solle vorübergehend wieder Grenzkontrollen an den Binnengrenzen einführen, sagte er damals. Ziel dieser Maßnahme sei es, den derzeitigen Zustrom nach Deutschland zu begrenzen und wieder zu einem geordneten Verfahren bei der Einreise zu kommen.

Umfrage der Kirchen: Hilfsbereitschaft weiterhin groß

Seither wurden viele Maßnahmen zur Begrenzung des Flüchtlingsstroms eingeführt. Merkel aber weigerte sich, von einer Obergrenze zu sprechen, und die Menschen in Deutschland fragten sich deshalb, wie viele denn noch kommen sollen? Die Bundesregierung kritisierte Ungarn, heimlich schlägt aber vielleicht mancher ein Kreuz, dass die Balkanroute geschlossen ist, auch wenn das nur eine Symptombekämpfung ist und kein Problem löst.

Die Stimmung in Bevölkerung ist wahrscheinlich noch immer besser, als sie in den Medien dargestellt wird. Ein Beispiel: Die Stadt Hannover hat ein Investitionsbudget von 100 Millionen Euro und legt nochmals 50 Millionen drauf, um Wohnungen für Flüchtlinge zu bauen, und das, obwohl Hannover diese Gäste nie eingeladen hat, Und obwohl sich die Sache trotz Unterstützung vom Bund nicht rechnet. Die Hilfsbereitschaft habe kaum abgenommen, ergab eine repräsentative Umfrage der Evangelischen Kirchen.

Ein Jahr nur „haltloses Gerede“?

Doch die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, ein Qualitätsmedium ersten Ranges, kommentiert seit Monaten mehrmals täglich, manchmal widersprüchlich und oft mit Schaum vor dem Mund über ein zusammenbrechendes Deutschland. Vor einer Woche schrieb ihr Schwesterblatt die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ einen Artikel über „ein Jahr haltloses Gerede“. Sie meinte damit nicht bloß die SPD, die Merkel eine unkontrollierte Willkommenskultur vorwarf, aber in der Großen Koalition Kontrollen selbst Beschränkungen bei der Zuwanderung verzögerte.

Die Lage in Deutschland ist besser, als sie sich anfühlt. Die Arbeitslosigkeit ist übrigens so tief wie nie seit der Wiedervereinigung vor 26 Jahren. Die Aufnahme der Flüchtlinge ist gelungen, die Integration, wie gesagt, noch nicht. Die Hilfsbereitschaft ist noch da, aber mehr Flüchtlinge möchten Menschen hier nicht mehr aufnehmen.

Dass sich die Diskussion in Zukunft doch noch versachlichen könnte, hat vielleicht ausgerechnet mit dem kommenden Wahlkampf zu tun. Denn CDU und CSU haben erkannt, dass ihr emotionaler Streit beiden politisch mehr schadet, als er einem von beiden nützen könnte – diese nützt nur der AfD und anderen pöbelnden Rechtspopulisten.

von

Günter Schwarz – 04.10.2016