(Ankara / Istanbul) – Nach der jüngsten Verhaftungswelle in der Türkei hat es Samstag Proteste am Bosporus und in mehreren europäischen Städten gegeben. In Istanbul trieb die Polizei die Demonstranten Mit Tränengas, Gummigeschossen und Wasserwerfern hunderte Menschen auseinander. Ungeachtet der Proteste im In- und Ausland gehen die türkische Justiz und die türkische Regierung aber weiterhin rigoros gegen Gegner und Kritiker massiv gegen Regierungskritiker vor. Es ist nun ein Punkt erreicht, an dem sich Europa „endlich zu einer klaren Haltung durchringen“ muss. Die EU ist aufgefordert, zu handeln.

Wie die Nachrichtenagentur AFP berichtete, demonstrierten am Samstag hunderte Menschen vor einer Moschee im Bezirk Sisli im europäischen Teil von Istanbul. Viele bezeichneten den Staat in Sprechchören als „faschistisch“ und riefen „Wir werden nicht schweigen“. Die Polizei griff rasch ein und trieb die Menge gewaltsam auseinander.

Der Protest der Menge richtete sich gegen die am Freitag erfolgte Festnahme von mehreren Abgeordneten der prokurdischen Oppositionspartei HDP. Unter den Festgesetzten sind auch die beiden Parteichefs Selahattin Demirtas und Figen Yüksedag. Sie wurden nach ihrem Verhör in Diyarbakir im Südosten der Türkei in Gefängnisse fernab der HDP-Hochburgen gebracht: Demirtas in der Provinz Edirne nahe der Grenze zu Griechenland und Bulgarien, Yüksedag nach Kocaeli östlich von Istanbul. Außer den beiden Parteichefs kamen auch mehrere weitere HDP-Mitglieder in Haft. Ihnen werden Mitgliedschaft in der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK und „Terror-Propaganda“ angelastet. Die Regierung kündigte an, dass die Verhafteten bis zu ihren Prozessen in Untersuchungshaft bleiben werden

„Cumhuriyet“-Mitarbeiter bleiben in Haft

Ein Gericht in Istanbul ordnete zudem an, dass neun Mitarbeiter der Oppositionszeitung „Cumhuriyet“, darunter Chefredakteur Murat Sabuncu, auch in Haft bleiben. Unter ihnen sind auch der Karikaturist Musa Kart und der Kolumnist Kadri Gürsel. Die Kolumnisten Hikmet Cetinkaya und Aydin Engin wurden aus gesundheitlichen und Altersgründen freigelassen, stehen aber weiterhin unter Kontrolle der Justiz. Zwei weitere „Cumhuriyet“-Mitarbeiter kamen frei, nachdem die Vorwürfe gegen sie fallen gelassen wurden.

Insgesamt waren 13 Zeitungsmitarbeiter Anfang der Woche festgenommen worden. Die türkische Justiz wirft ihnen ebenfalls Verbindungen zur PKK vor und zur Bewegung des im US-Exil lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen, den Ankara für den Putschversuch von Mitte Juli verantwortlich macht.

Seit dem Putschversuch sind mehr als 110.000 Richter, Lehrer, Polizisten und Beamte festgenommen oder suspendiert worden. „Was haben Sie vor?“ erklärte Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu am Samstag an Erdoğan gerichtet. „Wollen Sie eine Türkei erschaffen, in der alle im Gefängnis sitzen?“

Kern: „Falsche Richtung“

Von der EU ist eine klare Haltung gegenüber der Türkei gefordert. Die jüngsten Entwicklungen seien besorgniserregend. Das sind inakzeptable Anschläge auf Demokratie und Pressefreiheit! Erdoğan führt sein Land in die völlig falsche Richtung, weg von europäischen Werten wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Bereits im August hatten namhafte europäische Politiker verschiedener politischen Parteien den Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gefordert. Heute müssen wir feststellen, dass Erdoğan sein autoritäres Programm schneller und weitgehender umsetzt, als man es sich vorzustellen glaubte. Die politische Verfolgung von Oppositionspolitikern, Journalisten oder Richtern ist dabei besonders verwerflich. Das ist eine Missachtung der grundlegendsten demokratischen Grundregeln.

Die EU muss vorbereitet sein, dass das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei jederzeit platzen kann, denn in Bezug auf Erdoğan kann man sich nur auf eines verlassen, und das ist: Man kann sich auf gar nichts verlassen! Für den Fall, dass man dem Land „den Geldhahn zuzudrehen“, ist mit allem zu rechnen.

Demos in Europa

Das Vorgehen der türkischen Behörden gegen Regierungsgegner hat einmal mehr international für Proteste gesorgt. In Athen zogen etwa 1.000 Demonstranten in Richtung der türkischen Botschaft und beschimpften Erdoğan als Faschisten. Die griechische Polizei hinderte sie daran, das Gebäude zu erreichen. In Köln demonstrierten am Samstag etwa 6.500 Kurden gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Die Teilnehmer riefen Parolen wie „Terrorist Erdoğan“ und „Erdoğan Faschist“ und zeigten Plakate mit Aufschriften wie „Stoppt die Erdoğan-Diktatur!“

Diverse Redner riefen dabei zum Widerstand gegen Erdoğan auf und warfen der deutschen Politik vor, in der Türkei ein terroristisches und diktatorisches Regime zu unterstützen. Viele Demonstranten schwenkten Fahnen mit dem Bild des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan. Die Polizei fertigte drei Strafanzeigen aus: zwei wegen des Zeigens verbotener PKK-Symbole und eine wegen Beleidigung.

Auch in anderen deutschen Städten gab es Demonstrationen gegen die Politik Erdoğans. Sogar in Österreich gingen in Graz etwa rund 200 Menschen auf die Straße.

Diplomatische Versuche

Die jüngste Verhaftungswelle hat auch auf politischer Ebene Sorge ausgelöst: EU-Parlamentspräsident Martin Schulz vereinbarte in einem Telefonat mit dem türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim am Freitagabend, dass umgehend ein Konsultationsverfahren zwischen der türkischen Regierung und dem Europaparlament eingeleitet werden soll. So schnell wie möglich sollen Unterhändler beider Seiten in Ankara und Brüssel miteinander reden, bevor es zu einer weiteren Eskalation im Verhältnis der EU zum Nato-Partner Türkei komme, berichtete die Deutsche Presse-Agentur.

Auch der Europarat brachte Besorgnis zum Ausdruck und warnte die Türkei vor der abermaligen Einführung der Todesstrafe, wie von In Erdoğan geplant. Es habe in den vergangenen Jahren weltweit einen Trend zur Abschaffung der Todesstrafe gegeben, Europa sei dabei der Vorreiter gewesen, sagte der Generalsekretär des Europarats, Thorbjörn Jagland, der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. „Es wäre deshalb ein sehr negatives Signal, wenn sich die Türkei als europäisches Land zur Wiedereinführung der Todesstrafe hinbewegt. Es wäre eine Maßnahme gegen unsere gemeinsamen Werte“.

Kritik „zählt nicht“

Erdoğan hatte vor einer Woche bei einer Rede in Ankara einen baldigen Vorstoß für die Wiedereinführung der Todesstrafe angekündigt. Die Regierung werde dem Parlament einen Gesetzentwurf übermitteln, sagte Erdoğan. Er sei überzeugt, dass die Abgeordneten für die Todesstrafe stimmen werden. „Und ich werde sie ratifizieren“, fügte Erdoğan hinzu. Unmittelbar nach dem gescheiterten Umsturzversuch vom Sommer hatte der Präsident bereits die Wiedereinführung dieser Strafe erwogen. Einwände der EU gegen sein Vorhaben wischte der Staatschef beiseite: Diese Kritik „zählt nicht“, sagte er vor jubelnden Anhängern.

Auch die Europäische Union hatte in den vergangenen Wochen mehrmals gewarnt, dass eine Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei ein Ende der 2005 begonnenen Beitrittsverhandlungen bedeuten würde. Sollte die Türkei die Todesstrafe vollstrecken, kann sie auch von den Mitgliedsstaaten des Europarats ausgeschlossen werden. Der 1949 gegründete Europarat mit Sitz in Straßburg soll in seinen 47 Mitgliedsstaaten die Demokratie stärken sowie die Menschenrechte und den Rechtsstaat schützen.

von

Günter Schwarz  – 06.11.2016