(Paris / Berlin) – Was Manuel Valls Sorgen bereitet, ist das Brodeln. Ein Brodeln, ausgelöst von die Wut der Völker. Er hört es schon länger, wie er sagt, und weder seine Regierung noch die anderen in Europa konnten es bislang beruhigen. Es sei die Verantwortung aller Regierungen, die Völker anzuhören und das Brodeln zu mäßigen. Andernfalls drohe die große Vision der Nachkriegszeit zu zerbrechen. „Europa kann sterben“, sagte er in der Eröffnungsrede eines Wirtschaftsgipfels initiiert von der Süddeutschen Zeitung, der derzeit vom 17. Bis 19. November im Berliner Hotel Adlon stattfindet.

 Der französische Premierminister, der Regierungschef Manuel Valls (Parti socialiste / PS), lehnt das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP kategorisch ab, da es den Interessen der EU widerspreche. Es sollte kein Abkommen geschlossen werden, das die Anliegen der EU nicht respektiert und die Anliegen der Bürger nicht berücksichtigt. Europa sollte standhaft sein, Frankreich werde wachsam bleiben, so der Regierungschef am Sonntag zu Mitgliedern seiner Partei.

Laut der Nachrichtenagentur AFP äußerte sich der französische Premierminister gestern äußerst ablehnend zum geplanten transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP: „Ich kann Ihnen offen sagen, es kann kein transatlantisches Freihandelsabkommen geben. Dieses Abkommen ist nicht auf dem Weg.“ Valls betonte weiterhin, TTIP würde nicht nur „Populismus den Boden bereiten, sondern es wäre auch einfach schlecht für unsere Wirtschaft“.

Seit Beginn der TTIP-Verhandlungen vor drei Jahren ist das Abkommen hochumstritten. Neben der Bevorzugung kapitalstarker Interessengruppen und Konzerne, sorgt vor allem auch die intransparente Verhandlungsführung für Empörung unter allen Bürger der EU-Mitgliedsstaaten. Europa drohe vor allem aus dem Grund zu sterben, weil es keine echten europäischen Projekte mehr gebe.

Es fehle nicht nur an wirtschaftlichen Visionen, sondern vor allem an menschlichen. „Ich sehe, dass unsere Völker auseinanderdriften“, sagt Valls, „nicht unsere Politiker, nicht unsere Unternehmer – sondern unsere Bürger.“ Viele Europäer sähen nicht mehr, wie sehr sie eigentlich von Europa profitierten – sie fühlten sich lediglich von Brüssel aus „ferngesteuert“.

„Ich glaube, dass unsere Sprache nicht mehr verstanden wird“, sagte er. Die Sprache der Politik sei eine kalte, technokratische Sprache geworden, mit der man die Völker nur schwerlich erreiche. Damit öffne man Populisten die Tore und Türen.

Laut den Befürwortern des Vertrages soll mit TTIP die weltgrößte Freihandelszone geschaffen und dadurch wirtschaftliches Wachstum angeregt werden, was zum steigenden Wohlstand aller Beteiligten führe. Die TTIP-Gegner glauben diesen Verheißungen nicht und sehen kleine und mittelständische Unternehmen klar im Nachteil, sollte das Vertragswerk so besiegelt werden, wie es zum derzeitigen Zeitpunkt in der Öffentlichkeit bekannt geworden ist.

Der französische Premier betonte auch, dass es dramatische Konsequenzen hätte, die Milch-Quoten abzuschaffen, so wie es in dem TTIP-Entwurf vorgesehen ist. Der Molkereisektor ist äußerst wichtig für Frankreich und stellt einen Schlüsselbereich der heimischen Wirtschaft dar.

Die nächste Verhandlungsrunde über das Abkommen ist für den kommenden Juli angesetzt. Pünktlich zum Ende der Amtszeit von US-Präsident Barack Obama sollen die verbleibenden strittigen Fragen geklärt werden.

Doch der Widerstand gegen den Vertrag bleibt auch auf der Straße gewaltig. Erst im April versammelte eine Demonstration gegen TTIP und das fast baugleiche Abkommen mit Kanada, CETA. Rund 90.000 Protestierende kamen allein in Hannover zusammen. Das CETA- Abkommen wurde bereits 30. Oktober seitens der EU und Canada unterschrieben, während das TTIP-Abkommen derzeit „auf Eis liegt“, bis noch dem Präsidentenwechsel in den USA am 20 Januar 2017. Doch bevor die Freihandelsabkommen in Kraft treten, müssen sie noch von den Parlamenten aller EU-Mitgliedsstaaten ratifiziert werden.

von

Günter Schwarz  – 18.11.2016