(Genf) – Der Wahlsieg Donald Trumps hat die meisten Beobachter auf dem kalten Fuß erwischt. Ebenso rechnete kaum jemand damit, dass die Briten für den Austritt aus der EU stimmen würden. Beide Ergebnisse dürfen aber eigentlich nicht überraschen. Zumindest wenn man dem Generaldirektor der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), Guy Ryder, glaubt. Er sieht in einem zunehmend prekären Arbeitsmarkt die Gründe für das Erstarken einer nationalistischen und populistischen Politik. Doch der ILO-Chef ist auch überzeugt, dass es anders gehen könnte. Und seine Ideen haben viel mit Europa zu tun.

„Die Wahlausgänge der vergangenen Wochen und Monate waren eine starke Warnung für uns.“ Dieser Satz war so oder so ähnlich zuletzt von vielen Seiten zu hören: von der EU-Kommission über das EU-Parlament bis hin zu den nationalen Regierungen. Doch diesmal kommt die Mahnung nicht von einem Politiker, der gerade eine Wahl verloren hat oder um die kommende fürchtet.

Guy Ryder ist seit 2012 Generalsekretär der ILO (International Labour Organization) . Die Sonderorganisation der Vereinten Nationen soll weltweit Arbeitsrechte und Sozialstandards sicherstellen. Und ihr Chef sagt nun: Trump habe ebenso wie die EU-Gegner in Großbritannien davon profitiert, dass der Arbeitsmarkt zunehmend weniger Gewinner hervorbringt. Viele Menschen hätten das Gefühl, in der Arbeitswelt zu kurz zu kommen. Und sie „reagieren auf ihre täglichen Erfahrungen“, so Ryder.

Prekäre Arbeitsverhältnisse nehmen zu

Mit dieser Einschätzung steht der ILO-Chef nicht alleine da. Doch Ryder kann auch auf konkretes Zahlenmaterial verweisen. Eben erst hat seine Organisation eine fast 400 Seiten dicke Studie zum Thema „atypische Beschäftigungsverhältnisse“ veröffentlicht. Deren Ergebnis: Zeitarbeit, Scheinanstellungen und andere Formen prekärer Arbeitsverhältnisse sind in den vergangenen Jahren weltweit gestiegen.

In den Industrieländern zeigt sich das laut dem Bericht etwa darin, dass Teilzeitanstellungen vermehrt weniger Stunden umfassen. Dazu kämen Verträge „auf Abruf“, oft ganz ohne festgelegte Mindeststunden. In den USA hätten zehn Prozent aller arbeitenden Menschen unregelmäßige Arbeitszeiten oder hielten sich auf Abruf bereit, so die ILO. In Großbritannien basierten immerhin 2,5 Prozent aller Arbeitsverhältnisse auf „Null-Stunden-Verträge“.

„Fahrlässiger“ Umgang mit Arbeitsmarkt

Freilich sind nicht alle Industriestaaten von diesen Entwicklungen gleichermaßen betroffen. Österreich zum Beispiel ist von solchen Verhältnissen noch ein gutes Stück entfernt. Abrufarbeit ist dort verboten. Weniger als zehn Prozent aller Arbeitnehmer haben befristete Verträge. Aber der Anteil an Teilzeitangestellten ist traditionell hoch – die überwiegende Mehrheit davon Frauen. Und Schlagworte wie versteckte Selbstständigkeit oder prekäre Arbeitsverhältnisse sind in der gesamten EU mehr und mehr ein Thema; während zugleich die Sozialleistungen nach unten geschraubt werden.

„Eine der großen Sorgen ist, dass Europa in den vergangenen Jahren die gemeinsame Grundlage verloren hat“, sagt Ryder. Für den ILO-Chef ist das auch eine Folge der Wirtschaftskrise – allerdings nicht nur. Bereits zuvor sei mit dem Arbeitsmarkt „fahrlässig“ umgegangen worden, so der Brite, der in in Cambridge Sozial- und Politikwissenschaften studiert hat. Die Politik habe sich zunehmend zurückgezogen und nichts gegen eine „unfaire Verteilung der Wachstumsgewinne“ getan.

Bekannte Lösungen als Alternative?

Momentan herrsche das Bild vor, dass es nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten gebe: „Der Weg, den wir die vergangenen 20 Jahre gegangen sind“ auf der einen Seite; und die Versprechen von Populisten und Nationalisten auf der anderen Seite. „Falsche Lösungen“ nennt diese Ryder. Der Rückzug in die eigenen Grenzen könne in einer globalisierten Welt nicht die Lösung sein. Es sei nun die Aufgabe von Politik, Arbeitgebern und auch Arbeitnehmervertretern, einen anderen Weg aufzuzeigen.

„Wir müssen uns trauen, den Arbeitsmarkt aktiv zu gestalten“, sagt der ILO-Chef. Was er damit konkret meint? „Die Rede ist vom Mindestlohn, einer sozialen Absicherung, Tarifverhandlungen und einer bewussten Steuerpolitik.“ Was Ryder fordert, ist im Grunde eine Erneuerung des Sozialstaats und der Sozialpartnerschaft. Angesichts seiner beruflichen Vergangenheit in der internationalen Gewerkschaftsarbeit ist das wenig verwunderlich. Auch neu sind diese Ideen nicht, wie Ryder selbst eingesteht. Die Punkte „hätte ich Ihnen bereits vor zwanzig Jahren nennen können“.

Der ILO-Generaldirektor ist dennoch der Meinung, dass sie sich auch für heutige Herausforderungen eigneten. Vier Kräfte würden die „Arbeitswelt in Zukunft formen“. Die technologische Entwicklung werde voranschreiten, die Zusammensetzung der Gesellschaft sich ändern, die Globalisierung noch umfassender werden, und auch der Klimawandel werde den Arbeitsmarkt vor Herausforderungen stellen. Nichts davon spreche gegen politische Lösungen, „die wir bereits kennen“, so Ryder.

Europa soll Vorbild werden

„Es wäre hilfreich, auch einen Blick zurück zu werfen, und zu sehen, was in der Vergangenheit funktioniert hat“, sagt der ILO-Chef. Und er verweist auf die besondere Rolle Europas. „Ich denke, dass genau das europäische Sozialmodell und das Einhalten europäischer Werte die Lösung sein könnte.“

Das sieht man vermutlich auch auf Seiten der EU-Kommission so. Bereits vor über einem Jahr kündigte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker eine „europäische Säule sozialer Rechte“ an. Damit will Brüssel Grundsätze im Arbeits- und Sozialbereich festschreiben, „um so die Politik in einer Reihe von Bereichen, die unerlässlich für gut funktionierende und faire Arbeitsmärkte und Wohlfahrtssysteme sind, in die richtige Richtung zu lenken“, heißt es auf der Website der Kommission.

Gesetzgebung bei den Mitgliedsstaaten

Noch bis Ende des Jahres läuft die öffentliche Konsultation dazu, so die zuständige EU-Kommissarin Marianne Thyssen. 2017 soll die Initiative dann konkrete Formen annehmen. Es reiche nicht aus, „nur nette Werte“ zu haben, „wir müssen es auch wirklich meinen“, sagt die EU-Kommissarin. Klar ist allerdings bereits jetzt: Das von der Kommission angekündigte Lenken wird sich in erster Linie auf Beraten und Empfehlungen beschränken. Gesetze zum Arbeitsmarkt oder zur sozialen Absicherung liegen in den Händen der Nationalstaaten.

Industrievertreter meldeten jedenfalls bereits ihre Bedenken an. Soziale Rechte dürften nicht auf Kosten der Unternehmer durchgesetzt werden, verlautbarte etwa die Interessengruppe Eurochambers im Oktober. Was freilich auch die EU-Kommission so für sich in Anspruch nimmt. Der soziale und der ökonomische Fortschritt müssten kombiniert werden, versichert EU-Kommissarin Thyssen.

„Nicht unmöglich“

Auch ILO-Chef Ryder glaubt nicht, dass wirtschaftliche Entwicklung und soziale Standards einander widersprechen. „Ist es unmöglich, Globalisierung fair zu gestalten, mit Mindeststandards an sozialer Gerechtigkeit? Nein, das ist nicht unmöglich. Es ist nicht einfach, aber wir müssen es tun“, sagt Ryder. Anfang November wurde er für die kommenden vier Jahre in seinem Amt bestätigt: von Vertretern der Politik, der Arbeitnehmer und der Unternehmer.

von

Günter Schwarz  – 21.11.2016