Ein Rädchen im Getriebe
Der deutsche Bundesgerichtshof fällte im Falle des SS-Mannes Oskar Gröning ein historisches Urteil. Für Überlebende der Nazi-Verfolgung kann das Urteil nur eine sehr späte Genugtuung sein.
Oskar Gröning war SS-Unterscharführer und als solcher diente er von 1942 bis 1944 im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Der heute 95-Jährige und seine Geschichte sind der Öffentlichkeit lange bekannt. Er erzählte sie 2005 ausführlich in einem neunstündigen Interview der BBC und auch dem Spiegel. „Mittäter wäre mir schon fast zu viel“, sagte er damals zu seiner Rolle. Er wollte sich lieber nur als „ein Rädchen im Getriebe“ verstanden wissen. „Wenn Sie das als Schuld bezeichnen wollen, dann bin ich ein ungewollt Schuldiger. Juristisch bin ich nicht schuldig“, sagte er. Tatsächlich war er ein freier Mann.
In diesen elf Jahren hat sich Rechtsauffassung einiger Juristen und damit auch die Rechtsprechung in Deutschland etwas geändert. 1985 wurde die Ermittlung gegen Gröning und andere Nazis eingestellt. Damals waren Gerichte der Ansicht, dass den Angeklagten für eine „Beihilfe zum Mord“ in Auschwitz eine direkte Beteiligung nachgewiesen werden müsse. Bei dem Ausmaß der Massenmorde der Nazis erwies sich dies als schwierig. Dazu kam lange viel Unwille zur Strafverfolgung: Die bundesdeutsche Justiz klagte von mehr als 6.000 SS-Leuten, die in Auschwitz Dienst leisteten, lediglich vierzig an.
Eine Zäsur war das Urteil des Landgerichts München vom 12. Mai 2011 gegen den KZ-Aufseher John Demjanjuk, einen Ukrainer, der nach seiner Gefangennahme als Hilfsfreiwilliger im Vernichtungslager Sobibor für die SS Dienst tat. Das Gericht kam zum Schluss, dass sein Dienst als Wachmann ein Beitrag zur Tötungsmaschinerie gewesen sei, und als „Beihilfe zum Mord“ beurteilt werden muss. Demjanjuk starb am 12. März 2012 in Bad Feilnbach (Oberbayern), bevor der Bundesgerichtshof das Urteil für rechtskräftig erklären konnte. Das Münchner Urteil führte aber dazu, dass alte Fälle neu aufgerollt wurden. Dabei stellte sich heraus, dass die Mehrheit der wenigen noch Lebenden nicht mehr vernehmungsfähig ist. Gröning war eine Ausnahme und letzte Gelegenheit.
Im vergangenen Jahr hat ihn das Landgericht Lüneburg am 15. Juli 2015 zur Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen angeklagt und zu vier Jahren Haft verurteilt, wogegen er beim Bundesgerichtshof Revision einlegte. Der Bundesgerichtshof hat dieses Urteil am Montag jedoch bestätigt. Aus verfahrenstechnischen Gründen wurde nur Grönings Verhalten während der sogenannten Ungarn-Aktion beurteilt. 1944 wurden innerhalb zweier Monate 425.000 Menschen, vor allem Juden aus Ungarn, nach Auschwitz-Birkenau deportiert. 300.000 kamen ums Leben. Oskar Gröning machte in dieser Zeit „Rampendienst“. Während der Selektion war es seine Aufgabe, das Gepäck der Deportierten zu bewachen und Diebstähle zu verhindern. In den Medien wurde er später als „Buchhalter von Auschwitz“ bekannt. Seine Funktion war es auch, Währungen zu sortieren, Vermögen zu verwahren und nach Berlin zu schaffen. Das Landgericht Lüneburg kam zum Schluss, dass auch sein Wirken „die schnelle und reibungslose Durchführung des eigentlichen Tötungsvorgangs in den Gaskammern“ ermöglichte.
Gröning machte eine Lehre bei der Sparkasse, 1940 trat er der Waffen-SS bei. „Ich wusste, dass das eine zackige Truppe war, die immer vorne mitgemischt hat und ruhmbedeckt nach Hause kam“, begründete er den Entscheid. 1942 wurde er für eine „kriegswichtige Sonderaufgabe“ abkommandiert. Über die Vergasung der Juden wusste er schon am ersten Tag in Auschwitz Bescheid. Im Spiegel meinte er: „Ich habe mich mit der Zeit eingelebt. Oder vielleicht besser: Ich habe mich in die innere Emigration begeben. Es gab ein ganz normales Leben in Auschwitz. Es gab einen Gemüseladen, in dem man auch Knochen kaufen konnte, um sich eine Suppe zu kochen. Es war wie in einer Kleinstadt.“ Mit dem Massenmord sei er einverstanden gewesen.
Betroffen gemacht hatte ihn die Tötungsmaschinerie, deren Teil er war, nur selten. Im Gericht erwähnte er, wie bei seinem ersten Dienst an der Rampe ein SS-Mann ein Baby gegen einen Lastwagen schleuderte. Da habe er sich an seinen Vorgesetzten gewendet: „Wenn das hier immer so ist, will ich damit nichts zu tun haben.“ Aber Gröning, der nach eigenen Angaben mehrmals um Versetzung gebeten hat, blieb.
1944 wurde er in der Ardennen-Offensive eingesetzt. Auf den Krieg folgten drei Jahre Kriegsgefangenschaft und ein Leben in der Lüneburger Heide als Personalchef in einer Fabrik. Seine Frau heiratete er während seiner Zeit in Auschwitz. Sie war die Verlobte seines in Stalingrad verstorbenen Bruders.
Seine moralische Mitschuld stehe für ihn außer Frage, erklärte Gröning vor Gericht und bat um Vergebung. Das Gericht attestierte ihm eine „schonungslose Offenheit“, die strafmindernd wirkte. Ob er ins Gefängnis muss, ist wegen seines Alters unklar. Die Botschaft des Urteils ist, dass sich auch ein sogenannt kleineres Rädchen vor Gericht nicht aus der Verantwortung ziehen kann. Auch Gröning und mit ihm Tausende, die niemanden persönlich erschossen oder vergasten, sind mitverantwortlich am Massenmord der Nazis.
Am Prozess waren 60 Nebenkläger beteiligt, Überlebende der Nazi-Verfolgung und ihre Hinterbliebenen. Für sie ist das Urteil eine sehr späte Genugtuung. Es ist aber auch ein Vorwurf an die Justiz: Es wäre früher mehr möglich gewesen. Siebzig Jahre nach dem Krieg ist der Verurteilte ein Greis mit Rollator. Er und Tausende seiner Kameraden liefen Jahrzehnte frei und unbehelligt herum, weil die deutsche Justiz auf dem „rechten Auge“ blind war und leider zum Teil bis heute noch geblieben ist.
von
Günter Schwarz – 30.11.2016