Vor etwas mehr als 100 Jahren, am 30. Dezember 1916,  wurde der Prediger, Wunderheiler und eine der schillernsten Personen des zaristischen Russlands in St. Petersburg ermordet. Bekant und zur Legende wurde Grigori Jefimowitsch Rasputin kurz unter dem Namen Rasputin. Wenige Monate nach seinem Tod ging auch das russische Zarenreich unter – wie er es geweissagt hatte. Bis heute ranken sich Mythen um diesen Mönch und dessen Einfluss am Zarenhof und auf die Zarenfamilie.


Rasputin (2. von links) im Kreise der „Damenwelt“
Die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert und die auf sie folgenden Jahre waren in ganz Europa eine Zeit der Verirrungen. In den vermeintlich im technologischen und gesellschaftlichen Aufbruch befindlichen Ländern des alten Kontinents bahnten sich – dem eigenen „aufgeklärten“ Selbstbild zum Hohn – allerlei zutiefst irrationale, radikale, destruktive und nihilistische Bestrebungen und Ideen den Weg.

Kräften der Auflösung alter Ordnungen und bewaffneten, gewaltbereiten Revolutionsneigungen stellten sich auf der anderen Seite wiederum radikal traditionalistische oder mystische Bestrebungen in den Weg. Gleichzeitig wurde der große Krieg herbeigesehnt als Chance zur Rückkehr zum Heldentum vergangener Zeiten oder aber zum völligen Neuanfang. Auch an Russland ging diese Entwicklung nicht spurlos vorüber.

Das Schicksal des Grigori Jefimowitsch Rasputin, im Januar 1869 in Pokrowskoje im Gouvernement Tobolsk geboren, steht geradezu sinnbildlich für die Irrungen und Wirrungen und für die zutiefst widersprüchlichen und oftmals gegenläufigen Erscheinungsformen des damaligen Zeitgeistes und all seiner Extreme. Der kaum gebildete sibirische Bauernsohn, der zu höchstem Ansehen am Zarenhof gelangte. Der hoch verehrte Mönch, Prediger und Heiler, der zum Paria wurde und dessen gewaltsamer Tod vor gut 100 Jahren, am 30. Dezember 1916, die Kirchen zu Dankgottesdiensten und die Massen zu Jubelstürmen hinriss – er wurde auf seine Art zur tragischen Figur.

Insgesamt hatte Rasputin nicht viel mehr als zehn Jahre seines Lebens in St. Petersburg verbracht. Dorthin gekommen war er auch als Pilger, der seinen Lebensunterhalt in Klöstern und an heiligen Stätten verdiente. In seiner Jugend galt er als Persönlichkeit von unstetem Lebenswandel, mehrfach im Verdacht, die Gesetze übertreten zu haben, aber nie verurteilt. Er verlor früh mehrere Familienmitglieder, sein Bruder und seine Schwester ertranken im Fluss Tura. Letztere hatte zuvor einen epileptischen Anfall erlitten, Ersterer war mit Grigori spielen gegangen. Während der Bruder ertrank, überlebte Grigori, erlitt aber eine Lungenentzündung. Auch die Mutter starb früh.

Grigori Rasputin soll nach dem Ereignis, das zum Tod seines Bruders geführt hatte, seine erste Marienerscheinung gehabt haben. Zwei weitere sollten später in Kasan folgen. Auch in seinen Träumen soll die Gottesmutter ihm mehrfach begegnet sein. So befand sich der junge Mann früh im Spannungsfeld zwischen einem saloppen Lebenswandel und einer Frömmigkeit, die sich in ihm entfaltete.

Im Jahr 1887 heiratete er im Alter von 18 Jahren Praskowja Fjodorowna Dubrowina, aus der Ehe sollten ein Sohn und zwei Töchter hervorgehen. Rasputin ging jedoch weiterhin auf Pilgerreisen, und zwischen 1904 und 1905 erreichte er auf diesem Wege St. Petersburg. In seiner Heimatgemeinde schieden sich bereits damals an ihm die Geister. Er soll eigenmächtig gegen den Willen des Gemeindepfarrers einen Andachtsraum eingerichtet und darin Gottesdienste abgehalten haben. Auch soll er schon damals heilende Kräfte entfaltet haben.

Seine Gegner wiederum warfen ihm bereits damals vor, dass es im Rahmen von Zusammenkünften unter seiner Leitung zu Ausschweifungen und blasphemischen Akten gekommen sei. Abgründige Fantasien über gesellschaftliche Außenseiter waren auch im damaligen Russland keine Seltenheit. Immerhin tauchten zu jener Zeit auch Schmähschriften wie die „Protokolle der Weisen von Zion“ auf und erfuhren Verbreitung. Die gegen Rasputin erhobenen Vorwürfe konnten entsprechend auch nicht bewiesen werden, die Kirche verbot ihm dennoch, ihren Andachtsraum weiterhin zu nutzen.

Nachdem Rasputin St. Petersburg erreicht hatte, wurden dort eine Reihe bedeutsamer Kirchenvertreter auf ihn aufmerksam, vor allem seiner vermeintlichen Heilkräfte wegen. Der Archimandrit Theophanu, der als geistiger Beistand der Zarenfamilie diente, soll diese mit Rasputin in Kontakt gebracht haben, da deren einziger Sohn, der Zarewitsch Alexej, an der Bluterkrankheit litt.

Während sich trotz der Behandlung durch Ärzte der Gesundheitszustand des jungen Thronfolgers verschlechterte, zeigte sich durch Rasputins Heilbehandlung eine Verbesserung. Einer der Hauptfaktoren dafür dürfte gewesen sein, dass dieser die Gabe von Aspirin absetzte, das die Blutgerinnung hemmt und den Blutfluss erleichtert.

Die Behandlungserfolge beim Zarewitsch steigerten auch die Autorität, die der Heiler bei Zarin Alexandra genoss. Er wurde der von psychischen Belastungen gezeichneten First Lady im Staat auch zu einer Art mystischem Beistand – was mit Fortdauer der Zeit Gerüchte über eine außereheliche Beziehung oder gar ein Hörigkeitsverhältnis nährte.

Gleichzeitig konnte sich der Wunderheiler auf Grund seines stetigen Engagements am Zarenhof eine große Wohnung in St. Petersburg leisten und empfing dort eine Reihe von Patienten und Gästen aus der Oberschicht. Dabei vermittelte er auf entsprechende Bitten hin auch Kontakte zu Regierungsmitgliedern, während diese ihn zunehmend auch aufsuchten, um bei ihm Rat in politischen Angelegenheiten zu suchen.

Dass Rasputin in den gehobenen Kreisen der Hauptstadt ein so hohes Ansehen genoss, führte dazu, dass er zunehmend als graue Eminenz wahrgenommen wurde. Pressemeldungen und Gerüchte gingen so weit zu behaupten, dass er der eigentliche Entscheidungsträger am Zarenhof wäre und einen gleichsam dämonischen Bann über die Spitze des russischen Staates entfaltet hätte. Auch mehrten sich Gerüchte über Alkoholexzesse und Unzucht im Umfeld des geheimnisvollen Mönchs.

Briefe mit schwärmerischem Unterton, die vonseiten der Zarin an Rasputin gerichtet worden waren, gelangten Anfang der 1910er Jahre an dessen ehemaligen Weggefährten Mönch Iliodor, der in diesem verderbliche Mächte wirken sah und die Schreiben neben einem Buch über den „Heiligen Teufel“ veröffentlichte.

Wörtlich schrieb die Zarin an Rasputin im Jahr 1911: „Meine Seele findet nur ihre Ruhe, wenn du, mein Lehrer, neben mir sitzt, ich deine Hände küsse und mich an deine heilenden Schultern lehne.“

Zwar sprach diese Rhetorik objektiv betrachtet wohl eher für eine mystische Verbindung, wie man sie beispielsweise auch aus dem Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer in der islamischen Mystik des Sufismus kennt. Die Wirkung in der Öffentlichkeit war jedoch nachhaltig, zumal es zahlreiche Beobachter der Szenerie gab, die ungleich mehr in diese Worte hineininterpretierten. Es gab eine Anfrage von Duma-Abgeordneten an die Regierung in dieser Sache und auch die immer stärker werdenden Bolschewiken nutzten die dubiose Rolle Rasputins, der zeitweilig St. Petersburg verlassen musste, für ihre Propaganda, um die Monarchie zu diskreditieren.

Der Erste Weltkrieg sollte seinen Stern am Ende endgültig zum Sinken bringen. Auch in Russland vermochte der Waffengang nicht, die Moderne hinwegzufegen, die nationale Größe wiederherzustellen, der jungen Generation eine unverzichtbare Lektion in Tapferkeit zu geben oder was sich patriotische Schriftsteller in ganz Europa sonst noch in romantisierenden Deklamationen erträumt hatten. Materialschlachten, endlose und blutige Stellungsschlachten und ein hoher Blutzoll kennzeichneten den Kriegsverlauf auch für das Zarenreich.

Wie es dem Geist der Zeit entsprach, konnte auch hinter dieser prosaischen Realität nur der Dolchstoß finsterer Hintergrundmächte stehen – und in der Bevölkerung wurde die Erklärung populär, dass Verräter in den eigenen Reihen dafür verantwortlich wären, dass das Kriegsgeschehen dem russischen Zarenreich keine dauerhaften entscheidenden Terraingewinne einzubringen vermochte.

Man erinnerte sich daran, dass die Zarin ursprünglich aus Deutschland stammte – und sah auch in Rasputin, der sie nach weit verbreiteter Überzeugung mittels seiner übersinnlichen Fähigkeiten fernsteuerte, im Dienste des Feindes stehen musste.

Der Prediger selbst hatte im Vorfeld des Krieges eine düstere Vision gegenüber dem Zaren geäußert und erklärt: „Lieber Freund, ich sage es noch einmal, ein schrecklicher Sturm ist über Russland. Gewaltiges Unglück und Leid, Nacht ohne Lichtschimmer über einem grenzenlosen Meer aus Tränen und bald von Blut, unbeschreiblicher Schrecken. Ich weiß, dass alle den Krieg von Dir wollen, selbst die Treuen. Sie wissen nicht, dass es den Untergang bedeutet.“

Rasputin selbst versank im Alkoholismus und er soll in jener Zeit auch eine Prophezeiung gemacht haben, wonach er bald sterben würde – mit ihm aber auch die Zarendynastie und das Reich, wie man es kannte.

Am 30. Dezember wurde Rasputin ermordet. Er wurde in das Haus des Fürsten Felix Jusupow eingeladen, man versuchte ihn dort zu vergiften, schlug ihn, schoss mehrmals auf ihn und warf ihn am Ende in den Fluss Kleine Newa. Jusupow und seine Mitverschwörer, Fürst Dmitrij Pawlowitsch und der Duma-Abgeordnete Wladimir Purischkjewitsch, waren der Überzeugung, der Mord an Rasputin sei eine patriotische Tat zur Rettung der Monarchie. Andere Motive hatte wiederum der britische Agent Oswald Rayner, der an der Tat mitwirkte: Er befürchtete, dass Rasputin seinen Einfluss auf die Zarenfamilie ausüben würde, um einen Separatfrieden mit Deutschland auszuhandeln, was dem Britischen Weltreich massiv geschadet hätte.

Der Historiker Wladimir Smirnow begann zu Beginn der 1970er Jahre, sich intensiv mit dem Phänomen Rasputin auseinanderzusetzen. Er kam zu dem Schluss, dass nicht nur der tatsächliche politische Einfluss des Predigers auf die russische Politik seiner Zeit wesentlich überschätzt wurde – ähnlich wie heute, wo westliche Medien die Verschwörungstheorie verbreiten, der umstrittene Philosoph Alexander Dugin wäre ein ranghoher „Putin-Berater“. Auch die Gerüchte über eine besonders ausgeprägte Lasterhaftigkeit Rasputins wären größtenteils ohne Substanz gewesen.

Smirnow gab zu bedenken, dass der Prediger und Heiler ein sehr spiritueller Mensch gewesen sei, der seine Religion ernst genommen hätte: „Rasputin hat in Pokrowskoje mit seinem eigenen Geld eine Kirche gebaut; er hat eine Abstinenzgesellschaft gegründet; er hat seine Kinder gelehrt, an die Armen zu spenden: er hat weder Fleisch noch Milch zu sich genommen; er hat als Pilger zahlreiche heilige Stätten des Christentums besucht, unter anderem das Höhlenkloster in Kiew und die Grabeskirche in Jerusalem. Obwohl er Analphabet war, kannte er die Heilige Schrift auswendig und interpretierte sie auf eine so bildhafte Weise, dass er damit nicht nur die Kirchenhierarchie, sondern auch die Zarenfamilie beeindruckte.“

Wenige Monate nach Rasputins Tod sollte tatsächlich die Monarchie in Russland zerbrechen, und dabei hatte tatsächlich das Deutsche Reich seine Finger mit im Spiel. Dessen Geheimdienst ermöglichte im April 1917 die Reise des Bolschewikenführers Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt als Lenin, durch Europa im plombierten Waggon. Seine Rückkehr nach Russland sollte in entscheidender Weise zur „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ im gleichen Jahr beitragen, die tatsächlich zum Untergang der traditionellen Ordnung im Land führte. Für die Nachfahren Rasputins mit tragischen Folgen: Rasputins Sohn Dmitri und dessen Frau Fesha starben in einem Arbeitslager.

von

Günter Schwarz – 19.01.2017