Strukturelle Gewalt im Jobcenter
(Leipzig) – Nicht immer ist es nur friedlicher Protest, mit dem sich Hartz-IV-Betroffene Luft machen. Klagen über Attacken gegen Jobcenter und deren Mitarbeiter häufen sich. Die Ämter schützen sich mit Sicherheitsdiensten. Aus heiterem Himmel kommen diese Aggressionen allerdings nicht.
Schwer bewaffnete Polizisten patrouillieren vor dem städtischen Jobcenter in Leipzig. In den evakuierten Gebäuden suchen Beamte nach einer Bombe. Sie reagieren damit auf eine anonyme telefonische Drohung. Immerhin war eines der Häuser bereits in der Neujahrsnacht zum Ziel eines Brandanschlags geworden. Sprengstoff findet die Polizei an diesem Dienstag nicht. Ihrer Alarmbereitschaft tut das keinen Abbruch.
Im Fall der Brandattacke hat sich inzwischen das für politisch motivierte Straftaten zuständige Operative Abwehrzentrum der Polizei eingeschaltet. Hinweise zu möglichen Tätern, die zudem mehrere Scheiben des Amtes im Stadtteil Möckern einschlugen, Büros in Flammen setzten und einen Sachschaden von geschätzt einer Viertelmillion verursachten, will es mit 10.000 Euro belohnen. Zeugen hätten von einer Gruppe vermummter Radfahrer berichtet, sagte Polizeisprecherin Kathleen Doetsch in dieser Woche der Leipziger Volkszeitung.
Für die Polizei in der Sachsenmetropole gehören Aggressionen gegen Arbeitsagentur und Jobcenter zum Alltagsgeschäft. „Der Brandanschlag war schon eine besondere Qualität, aber solche Drohungen wie gestern gehen jede Woche ein“, sagte Behördensprecher Alexander Bertram am Mittwoch. Die Polizei reagiert; aber Erklärungen für derlei Gewalt zu finden, ist nicht ihre Aufgabe.
Aufrüstung versus Verzweiflung
Zwei Jobcentermitarbeiter wurden 2012 und 2014 von Klienten getötet. Im vergangenen Jahr kam ein Sachbearbeiter im hessischen Dietzenbach nach einer Hammerattacke gerade noch mit dem Leben davon. Die Behörden antworten mit privaten Sicherheitsleuten. In Hamburg seien diese seit 2014 massiv aufgestockt worden, sagte die Linke-Politikerin und frühere Jobcentermitarbeiterin Inge Hannemann der Autorin. Die Bundesagentur für Arbeit hat derweil sämtliche Büros mit Notfallknöpfen ausstatten lassen. Neue Mitarbeiter schickt sie in Schulungen. Dort sollen sie lernen, mit aggressiven „Kunden“ umzugehen.
Dass die Vorkehrungen nicht allen Beschäftigten die Angst nehmen, weiß der Beamtenbund. 2016 hatte sein Jugendverband in Nordrhein-Westfalen gut 800 Jobcenterangestellte befragt. Fast die Hälfte gab an, schon mehrfach im Dienst tätlich angegriffen worden zu sein. Kai Tellkamp vom Bundesvorstand der Gewerkschaft fordert noch mehr Sicherheit, bessere Ausbildungsmaßnahmen für Sachbearbeiter und schärfere Konsequenzen für Täter. Außerdem sei eine Statistik zu solchen Übergriffen notwendig. „Die Aggressoren müssen wissen: Das wird nicht toleriert“, sagte er am Dienstag dem NDR.
Dass immer ausgefeiltere Sicherheitsmaßnahmen des Problems Lösung sein könnten, bezweifelt auch Inge Hannemann. Die Aggressionen fielen nicht vom Himmel, meint sie. Das System aus Zwang, Gängelei und drakonischen Strafen sei schließlich auch eine Form von struktureller Gewalt. Die empfindet sie häufig, wenn sie Betroffene begleitet.
„Man steht da mit jemandem, der sanktioniert wurde, dem die Kündigung der Wohnung droht, oder der nicht weiß, wie er ohne Geld an Essen kommen soll, und dann prallt man nur ab – da kann einen schon Wut überkommen“, so Hannemann. Viele Mitarbeiter, sagt sie, beriefen sich darauf, nur Gesetze auszuführen. „Es sind aber die Gesetze, die unmenschlich sind und Betroffene verzweifeln lassen.“
Enteignet und bestraft
Diese unmenschlichen Gesetze musste Hanna Meier, die ihren richtigen Namen nicht veröffentlicht haben möchte, am eigenen Leib erfahren. Seit einer schweren Krankheit im Jahr 2011 fand die gelernte Verkäuferin nur noch Minijobs. Vor vier Jahren musste die heute 54-Jährige, die ihre vier Kinder alleine großgezogen hat, Hartz IV beantragen. Das von ihren verstorbenen Eltern geerbte Haus in einem kleinen Dorf mit einer Wohnfläche von 110 Quadratmetern befand das Jobcenter für zu groß. Sie musste es verkaufen, bezog mit zwei noch im Haushalt lebenden Kindern eine Dreizimmerwohnung im Plattenbau. Als Erlös blieben ihr gerade 20.000 Euro, wie sie sagt.
„Von dem Geld sollten wir gut zwei Jahre leben; wir mussten es wortwörtlich auf Sozialhilfeniveau aufessen.“ Dabei habe sie einst viel in die kleine Immobilie, einst von den Großeltern gebaut, investiert. „Das Amt hat damit auch die Zukunft meiner Kinder ruiniert“, meint sie.
Doch das ist nicht alles. Sie blättert in ihren Akten und zeigt vier Sanktionsbescheide, die sie innerhalb von drei Jahren bekommen hat. Dreimal wurde ihr die Leistung für drei Monate um zehn, einmal sogar um 60 Prozent gekürzt. Zwei Strafen hat das Sozialgericht inzwischen aufgehoben. Das Jobcenter musste nachzahlen. „Die anderen Verfahren laufen noch“, erklärte sie.
Worum es ging? Dreimal habe sie nicht zu Terminen erscheinen können. Die Gründe, ihren Minijob und einmal eine Krankheit, akzeptierte die Behörde nicht. Ein weiteres Mal hatte sie die ihr monatlich vorgeschriebenen fünf Bewerbungen zu spät eingereicht.
„Sie dürfen nicht vergessen“, erinnerte sie,“es geht hier um das absolute Existenzminimum; Sie können ihre Rechnungen nicht bezahlen, ernähren sich von Toastbrot und Nudeln und müssen damit rechnen, dass der Strom abgedreht wird.“
Trotzdem ist Meiers größte Angst eine andere: „Ich sehe den gesellschaftlichen Zusammenhalt bröckeln.“ Immer öfter erlebe sie, wie Menschen ihre Wut etwa auf Flüchtlinge fokussierten. „Dabei haben die unter denselben Schikanen zu leiden und sind nicht schuld an der Politik“, so Meier.
von
Günter Schwarz – 23.01.2017