„Fake News“ vs. „Newspeak“: Weshalb wir wieder Orwells „1984“ lesen sollten
In dem meistgelesenen Science Fiction Roman der Weltliteratur „1984“, der im Juni 1949 erschien, entwarf George Orwell ein düsteres Zukunftsbild. Heute, fast 70 Jahre später, ist sein Buch in den USA wieder ein Bestseller. Ein Gespräch über Dystopien der Gegenwart – und fünf Kulturtipps für die „Ära Trump“.
„Big brother is watching you“ – den meisten dürften George Orwells Worte noch aus der Schulzeit bekannt sein. Der Autor ist seit 67 Jahren tot, doch sein düsterer Zukunftsroman „1984“ lebt weiter. Er ist momentan in den USA das meistverkaufte Buch des Internethändlers Amazon.
Der Grund: Eine amerikanische Journalistin sagte in einer Gesprächsrunde des Senders CNN, sie fühle sich durch den Begriff „alternative Fakten“, den eine Beraterin Donald Trumps geäußert hatte, an Orwells fiktiven Überwachungsstaat aus „1984“ erinnert.
Dass diese Parallelen gezogen werden, ist kein Zufall, sagt Literaturwissenschaftler Philipp Theisohn.
Inwiefern überrascht Sie dieser Vergleich von George Orwells dystopischem Roman „1984“ und der amerikanischen Gegenwart unter Trump?
Philipp Theisohn meint: „Er überrascht mich kaum. Wenn wir dystopische Literatur lesen, sei es Orwells ,1984‘, Aldous Huxleys ,Schöne neue Welt‘ oder auch Jules Vernes ,Paris au XXe siècle‘ (Paris im 20. Jahrhundert), dann sind die Welten, die wir in diesen Büchern vorfinden, nicht einfach nur grausig.
Die Figuren in diesen Romanen haben vielmehr den Eindruck, sie lebten in einer Welt, die vollkommen ist, in der für sie gesorgt wird und in der sie nicht bedroht werden.
Romane wie ,1984‘ zeigen über den Blick von außen, dass genau dieses Einstimmen in den Konsens, dieses Wohlfühlen, das narkotisierte bürgerliche Leben das Dystopische ausmachen.
Insofern überrascht es mich nicht, dass im Umfeld der neuen Präsidentschaft in den USA genau solche dystopischen Geschichten wieder aufkommen: Weil dort auch die Gefahr besteht, dass man so tut, als ob eigentlich gar nichts sei, statt das Bewusstsein zu behalten, dass etwas grundsätzlich nicht stimmt.
,1984‘ ist in diesem Sinne eine wunderbare Lektüre, um die Wirklichkeit, in der man in der USA zurzeit lebt, neu zu deuten.“
Orwell schrieb „1984“ bereits 1946 bis 1948. Literatur kann auf politische Ereignisse reagieren – inwiefern kann sie sie auch voraussagen?
„Science-Fiction-Literatur ist keine, die sich vornimmt, bestimmte Ereignisse vorherzusagen – sehr wohl aber bestimmte Konstellationen. Sie klopft unsere Gegenwart ab und fragt: Was könnte noch kommen?
Literatur kann die Wirklichkeit sehr präzise beschreiben. Und sie ganz anders erkunden, als zum Beispiel ein Prognostiker es tun kann. Ein konkretes Beispiel: In Frankreich gibt es zum einen den Roman des Soziologen Michel Wieviorka: ,Marine Le Pen Présidente‘ (Präsidentin Marine Le Pen).
Demgegenüber steht Michel Hoeullebecqs ,Unterwerfung‘, in dem es darum geht, dass der Front National verhindert wird und eine islamische Partei den Premierminister von Frankreich stellt.“
Inwiefern haben solche fiktiven Romane das Potenzial, in die politische Sphäre zu wirken?
„Das haben sie durchaus – man darf Literatur nicht zu klein machen. ,1984‘ ist vielleicht das beste Beispiel: Begriffe wie ,Newspeak‘, ,Neusprech‘, die wir aus diesem Text kennen, prägen unseren Umgang mit der Gegenwart.
Es ist ja nicht so, dass nun urplötzlich wieder Orwell gelesen wird, ohne dass man weiß, warum. Sondern die Leute greifen wieder zu Orwell, weil sie wissen: die aktuelle Gegenwart hat etwas mit seiner Erzählung zu tun.
Dieser Text ist so weit in unser kulturelles Bewusstsein eingesickert, dass wir aktuell einfach darauf zurückgreifen können. Insofern prägt Literatur stets unsere Wahrnehmung der politischen, kulturellen und sozialen Wirklichkeit.
Das hat nicht dazu geführt, dass in den USA jemand anderes gewählt wurde als Donald Trump. Doch Literatur kann dazu beitragen, dass wir die Geschehnisse nicht einfach naiv betrachten, sondern dass wir sie wach betrachten.“
Weshalb faszinieren uns dystopische Gesellschaftsentwürfe so sehr?
„Dystopien sind ja erst mal spannender als Utopien. Denn zum einen ist in ihnen alles Gegenwärtige schon geschehen und abgegolten. Vieles ist kaputtgegangen und man muss unter ganz neuen Bedingungen von vorne anfangen. Das ist der utopische Charakter der Dystopie: sie radiert alles aus. Das ist furchtbar, aber enthält auch ein befreiendes Element.
Zum anderen ist die Dystopie eine Art Frühwarnsystem. Wir merken beim Lesen: was wir in der Fiktion vorfinden, ist gar nicht so weit weg, es gibt Wege, die führen von unserer Gegenwart direkt dorthin. In diesem Sinne hat die Dystopie auch eine präventive Funktion.“
Bieten dystopische Bücher also auch eine Orientierungshilfe?
„Ich glaube nicht, dass es ein Buch gibt, dass uns dabei hilft, uns immun zu machen gegen Populismus und Radikalismus. Aber was immer hilft: Lesen. Denn Lesen fördert die kritische Auseinandersetzung und hilft uns, die Gegenwart eingehender zu betrachten.“
von
Günter Schwarz – 26.01.2017