Mit Plato über Sex nachdenken
Was der britische Fernsehkoch Jamie Oliver für die Küche ist, ist Alain de Botton für die Philosophie. Mit seinen Anleitungsbüchern, YouTube-Videos und Podcasts will der britische Philosoph und Bestsellerautor Alain de Botton das Denken wieder sexy machen. Seine „School of Life“ ist mittlerweile ein weltumspannendes Unternehmen – doch Idealismus scheint nach wie vor der Motor zu sein, der sie treibt.
Warum lernen wir in der Schule rechnen und schreiben, aber nicht, wie man ein gutes Leben führt? Der britische Philosoph Alain de Botton hat eine Philosophenschule gegründet, die in einer zunehmend unübersichtlicher werdenden Welt wieder lehren will, sich auf das Wesentliche zu besinnen. Ihre Grundprinzipien und Rituale hat die in kurzer Zeit auf zwölf Filialen weltweit angewachsene „School of Life“ den großen Weltreligionen abgeschaut.
„Es gibt keine einzige Mainstream-Institution, die uns die Kunst des Lebens lehrt“, schrieb De Botton schon 2012 in seinem Buch „Religion für Atheisten“ („Religion for Atheists“). Ständig würden wir mit News überschwemmt, wenn es aber darum ginge, eine gute Paarbeziehung zu führen oder mit dem eigenen Altern und der Sterblichkeit fertigzuwerden, dann seien wir alleingelassen. Populäre Ratgeber lässt er offenbar nicht gelten.
Eine schlichte Beobachtung. Doch es scheint, als habe De Botton einen Nerv der Zeit getroffen. Was er in „Religion für Atheisten“ als Theoriegebäude entwirft, setzt er seit mittlerweile neun Jahren erfolgreich in die Praxis um. Die von ihm gegründete „School of Life“ ist heute ein weltumspannendes Unternehmen, elf als Lizenzunternehmen geführte Ableger hat die Londoner Zentrale mittlerweile, es gibt sie unter anderem in Paris, Amsterdam, Istanbul, Tel Aviv, Melbourne oder Sao Paolo. Im Vorjahr kam eine Dependance in Berlin dazu. Eine Filiale in Taipeh wird demnächst eröffnen.
Leben lernen mit Proust und Dostojewski
Gegründet 2008, speisen sich die Unterrichtsinhalte der Schule aus einer Art „Best-of“ aus den Gebieten der Religion, der Freud’schen Psychoanalyse, der Soziologie sowie einer mit kenntnisreichem Enthusiasmus eingebrachten Kunst- und Kulturtheorie. Wobei „Best-of“ durchaus nicht abwertend gemeint ist. De Botton ist ein Universalgelehrter im besten Sinne, sein Sammlungskriterium ist die Liebe zur Materie. Und begeistern kann er sich nicht nur für Proust („Wie Proust Ihr Leben verändern kann“ wurde 1997 zum Bestseller) oder Dostojewski, sondern vor allem auch für sakrale Kunst und Rituale. De Botton argumentiert, dass sich religiöse Rituale nicht grundlos über Jahrtausende zu ihrer jetzigen Form entwickelt hätten.
Müsste es nicht etwas Befreiendes haben – auch für eine säkulare Gesellschaft – wenn ihre Mitglieder gemeinsam an einer Klagemauer weinen und sich so entlasten könnten? Und könnte man statt der katholischen Beichte nicht Ambulatorien für die Seele einrichten, eine Art Walk-in-Psychotherapie? Einige Filialen der „School of Life“ bieten mittlerweile auch Einzeltherapie an.
De Botton schlägt auch vor, neue Orte zu schaffen, an denen sich Menschen als Menschen begegnen. „Agape Restaurants“ nennt er sie in „Religion für Atheisten“. Noch gibt es diese säkularen Kirchen nicht, aber in De Bottons Vorstellung isst und trinkt man hier mit Fremden und tauscht sich mit ihnen über Fragen der Moral und Ethik, ja eben über das Leben aus. Statt sich zu erkundigen, wo die Kinder in die Schule gehen, fragt man: „Was bereust du?“, „Wem kannst du nicht vergeben?“ oder „Wovor hast du Angst?“ und kommt sich so näher.
Austausch und Miteinander statt Gebet
Früher sei man in Kirchen und Gebetsräumen mit Menschen zusammengetroffen, die sich von einem selbst in Milieu, Alter, Geschlecht und Status unterschieden hätten. Heute lebe man in einer heterogenen Blase: „Es war ein großer Irrtum des modernen Atheismus, zu übersehen, wie viele Aspekte des Glaubens selbst dann noch relevant bleiben, wenn man seine Inhalte bezweifelt.“
Fassade der im Oktober 2015 eröffneten „School of Life“ in Seoul
Die „School of Life“ in Seoul wird von der Journalistin Mina Sohn geführt
Nach der Veröffentlichung von 15 Büchern (eines davon wurde auch fürs Kino verfilmt), einer TV-Serie und genannten Podcasts auf der BBC entschied sich De Botton, sein Manifest einer weltlichen Religion in die Tat umzusetzen und scharte in seiner „School of Life“ Autoren und Vortragende unterschiedlicher Disziplinen um sich. In der Londoner „School-of-Life“-Zentrale wird etwa im Februar der Avantgardemusiker Brian Eno mit der Psychologin Tanya Byron in der Reihe „Life’s Lessons“ den Wert der Kreativität diskutieren. 20 bis 25 Kurse hält etwa die Londoner Filiale jeden Monat ab, im Vorjahr kamen 10.000 Schüler, um sie zu besuchen. In den minimalistischen Shops werden zudem kleine Bücher mit bewusst niederschwelligen Titeln angeboten: „How to Make a Home“ oder „How to Find Fullfilling Work“.
Zumindest die Geschlechtsorgane sind ehrlich
Den Band „How to think more about Sex“ (2012) schrieb wiederum De Botton selbst. In der betulichen, deutschen Betitelung, „Wie man richtig an Sex denkt: Kleine Philosophie der Lebenskunst“, geht der Witz des Originals leider verloren. Die Sexualität beschreibt De Botton in diesem Band als das Unvermittelte, Wahre: „In einer Welt, die reich an gekünstelter Begeisterung ist, und in der es oft schwerfällt, zu unterscheiden, ob die Menschen uns mit professioneller oder aufrichtig empfundener Freundlichkeit begegnen, funktionieren zumindest die feuchte Vagina und der erigierte Penis noch als eindeutiges Zeichensystem zwischen den Menschen“, schreibt er, fügt allerdings an, dass auch die Libido Grenzen brauche, denn ohne Grenzen „würde unser Sexualdrang uns zerstören“.
Sehnsucht nach einer philosophischen Leitkultur
Sex, Arbeit, Liebe und die immerwährende Suche nach dem Glück. Alles hängt mit allem zusammen – auch das Individuum mit der Gesellschaft. Ganz neu ist Alain de Bottons Idee einer von Philosophen entwickelten Leitkultur übrigens nicht. Schon Plato forderte um 300 v. Chr. eine Philosophenherrschaft als ideale Form des Staates: Lebensweisheit solle die Voraussetzung bilden für Macht. In seiner Akademie lehrte Plato Männer und Frauen, ungeachtet ihres Standes. Zum Vergleich: Die Gebühren der „School of Life“ (ein Tagesseminar in Berlin kostet rund 120 Euro, ein dreistündiger Abendkurs rund 40 Euro) sind nicht eben gering, ihre Bücher dagegen erschwinglich, Podcasts, Videos und das Blog leicht zugänglich und umsonst.
Die „School of Life“ gibt mittlerweile auch Betriebsschulungen. De Botton selbst unterrichtet auch Manager und andere Führungspersonen, laut einem Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ unter anderem Google-Chef Eric Schmidt. In einer idealen Welt funktioniert der Philosophenstaat nämlich laut Plato auch andersherum: Wenn die Philosophen nicht an die Macht gelangen können, müssen eben die Mächtigen zu Philosophen werden.
von
Günter Schwarz – 30.01.2017