„Zeit Online“-Interview mit der ehemaligen Statsministerin von Dänemark – Helle Thorning-Schmidt: „Ich habe alles gesehen“
Sie hat Dänemark regiert, jetzt kämpft Helle Thorning-Schmidt für die ärmsten Kinder der Welt. Was hat ihr Leben reicher gemacht?
Interview: Elisabeth Niejahr und Jens Tönnesmann
Helle Thorning-Schmidt ist Profi genug, um zu wissen, wie sie die Menschen für sich und ihre Mission gewinnen kann. Als sie an diesem Tag ans Rednerpult im Weltsaal des Auswärtigen Amts in Berlin tritt, nimmt sie ihre Zuhörer mit auf eine Reise: auf die griechische Insel Lesbos, zu minderjährigen Flüchtlingen, die sie dort in einem Lager getroffen hat und die ihr nicht vom Schrecken des Kriegs erzählt haben, sondern von ihren Hoffnungen, Ärzte und Ingenieure und Fußballspieler zu werden. Mehr als fünfhundert Diplomaten und Experten hören zu, als die Chefin der Hilfsorganisation „Save the Children“ sagt: „Wenn wir diese Kinder da nicht bald herausholen, dann verschwindet die Hoffnung für immer aus ihren Augen. Dann verlieren wir diese Generation.“ So versucht die 50-Jährige, sich Gehör zu verschaffen bei den politischen Führern Europas, zu denen sie selbst lange gehört hat. Zuletzt war sie Ministerpräsidentin von Dänemark – wie ihr filmisches Double aus der populären Polit-Fernsehserie „Borgen“. Kurz nach ihrer Rede sitzt Helle Thorning-Schmidt im Berliner Büro ihrer Organisation. Ganz in der Nähe stand sie schon einmal als Jugendliche, erzählt sie. Ihr Vater wollte ihr damals die Mauer und Ost-Berlin zeigen, um zu verhindern, dass aus seiner Tochter eine Kommunistin würde. Das Erlebnis hat ihr Leben geprägt – ein Leben, dessen Höhen und Tiefen sie in diesem Gespräch zeichnen wird.
DIE ZEIT: Frau Thorning-Schmidt, als Sie noch Regierungschefin von Dänemark waren, hat „Save the Children“ Sie kritisiert. Sie haben den Zuzug von Flüchtlingen begrenzt, vor allem den von Familiennachzüglern.
Helle Thorning-Schmidt: Moment! Während meiner Regierungszeit hat Dänemark, gemessen an der Bevölkerungszahl, mehr Flüchtlinge aufgenommen als fast alle anderen Länder in Europa. Es war aber schwer, das immer weiter fortzusetzen. In Dänemark bekommen alle neuen Flüchtlinge ja sofort eine Wohnung, sie leben nicht in Zelten oder Massenunterkünften. Deshalb musste ich etwas dafür tun, dass weniger Flüchtlinge kamen.
ZEIT: Heißt das, Sie würden heute wieder genauso handeln? Bei den Wahlen 2015 haben Sie die Macht verloren.
Thorning-Schmidt: Wir konnten am Ende keine Regierung bilden. Aber wir Sozialdemokraten haben unser Wahlergebnis verbessert.
ZEIT: In Dänemark haben die Sozialdemokraten schon früher mit Populisten um Wähler konkurriert als in Deutschland. Kann man aus Ihren Erfahrungen etwas lernen?
Thorning-Schmidt: Ich glaube, es kommt vor allem darauf an, dass Flüchtlinge arbeiten. Deshalb habe ich im Wahlkampf auch sehr deutlich gesagt, dass das in Dänemark von ihnen erwartet wird. Abgesehen davon glaube ich, dass wir die moderaten, ausgewogenen und hart arbeitenden Politiker der Mitte vor Verleumdungen schützen müssen. Damit meine ich die Politiker, die sich um Kooperationen und Kompromisse bemühen, auch wenn es hart ist.
ZEIT: Sie stammen aus einem wohlhabenden Land, ihre Organisation „Save the Children“ hilft vor allem in armen Staaten. Was denken Sie heute über Ihre eigene Kindheit?
Thorning-Schmidt: Ich hatte eine Kindheit mit sehr vielen Freiheiten. Ich war das dritte Kind, die kleine Schwester, und meine Eltern hatten wenig konkrete Erwartungen an mich. Es gab keinen Leistungsdruck und wenig Vorschriften. Gleichzeitig hatte ich immer das Gefühl, dass mir die Welt offensteht. Mein Vater hat zu meiner Schwester und mir immer gesagt: Ihr könnt alles werden, was ihr wollt. Auch Regierungschefin.
ZEIT: So kam es dann ja später auch.
Thorning-Schmidt: Ich weiß, das klingt verrückt. Wahrscheinlich hat mir geholfen, dass ich in einer sehr politischen und sehr lebendigen Familie aufgewachsen bin. Da musste man als Jüngste schon energisch sein, um gehört zu werden. Außerdem galt bei uns die Regel, dass wir nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hatten, unsere Meinung zu sagen. Wenn wir beim Abendbrot über etwas in der Schule schimpften, fragte mein Vater, was wir denn unternommen hätten, um die Dinge zu ändern. Ich glaube, diese Haltung habe ich übernommen: Ich höre Kindern zu und respektiere sie.
ZEIT: Was lernen Sie von den Kindern, denen Sie auf Ihren Reisen begegnen?
Thorning-Schmidt: Sie treiben mich zur Eile an. Ich habe zuletzt viel mit Jugendlichen in Flüchtlingslagern gesprochen, auf Lesbos, im Libanon und in Jordanien. In einem Lager haben sie mir einen Zaun gezeigt, unter dem sie morgens durchkriechen, bevor sie von einem Laster abgeholt und zum Arbeiten auf ein Feld gebracht werden. Die größte Sehnsucht dieser Kinder ist ein ganz normales Leben. Mein Vater soll arbeiten, sagen sie. Die Familie soll wieder in einem richtigen Haus leben, ich will zur Schule gehen. In solchen Momenten weiß man, dass nicht viel Zeit bleibt. Es ist eine Frage von Monaten, vielleicht von ein oder zwei Jahren, bis viele dieser Jugendlichen den Glauben an eine bessere Zukunft verlieren.
Wenn Helle Thorning-Schmidt von ihrer Arbeit für „Save the Children“ erzählt, sind ihr kein Bedauern, keine Bitterkeit mehr anzumerken – obwohl ihr Abschied aus der Politik für sie ein schmerzhafter Schritt gewesen sein muss. Wie also hat sich ihr Glück über die Jahre entwickelt? Um den Verlauf zu zeichnen, greift Thorning-Schmidt gezielt nach einem Farbstift: „Rot“, sagt sie, „das ist die Farbe meiner Partei, meiner Organisation, meines Lebens.“ Die Kurve knickt nach unten ab, als sie zehn ist. Damals lassen sich ihre Eltern scheiden. Doch sie fängt sich schnell, als sie das Gymnasium besucht, das sie mit dem besten Abitur der Klasse abschließt. Ihre Mitschüler nennen sie „die Königin“. Danach reist sie nach Asien. Die Reisen prägen sie: In Indien und China lernt sie die großen Unterschiede zwischen Arm und Reich kennen.
ZEIT: Sie haben schon in jungen Jahren die halbe Welt bereist. Wie sehr haben diese Eindrücke Ihre Politik beeinflusst?
Thorning-Schmidt: Das spielte eine große Rolle. Auf den Reisen habe ich schon den Ärger verspürt, der heute noch in mir ist, wenn es nicht gerecht zugeht. Mir war aber auch damals schon klar, dass ich Teil des Wandels sein kann und etwas bewegen kann gegen den Klimawandel oder für die Rechte von Kindern.
ZEIT: Also haben Sie beschlossen, Politik zu machen?
Thorning-Schmidt: Das zog sich noch etwas hin. Eine große Rolle hat der Fall der Mauer gespielt. Ich war 23. Die Eindrücke haben sich mir genauso eingeprägt wie das Bild von Kohl und Mitterrand, die sich beim Gedenken an den Krieg in Verdun an die Hand nehmen. Seitdem glaube ich an Europa und daran, dass wir die Probleme am besten gemeinsam lösen können. Europäisch zu sein wurde ein Teil meiner Identität. Es war fast logisch, danach in Brügge am „Collège d’Europe“ zu studieren.
Zu Beginn der 1990er Jahre macht die Glückskurve von Thorning-Schmidt einen Knick nach oben. An der Europa-Uni lernt sie Stephen Kinnock kennen, den Sohn des früheren britischen Labour-Chefs und EU-Kommissars Neil Kinnock. Die beiden heiraten. Und während Thorning-Schmidt Abgeordnete im Europäischen Parlament ist, kommen die beiden gemeinsamen Töchter zur Welt. Thorning-Schmidts Glückskurve steigt weiter. Bis sie in die dänische Politik wechselt. „Dann wurde es schwieriger“, sagt sie und lacht. Als Chefin der Sozialdemokraten verliert sie 2007 eine Wahl. Auch 2011 wird ihre Partei nur zweitstärkste Kraft, sie kann aber mit einem Koalitionspartner regieren. Thorning-Schmidt wird Ministerpräsidentin. Vier Jahre später kann die Koalition ihren Erfolg nicht wiederholen – und obwohl die Sozialdemokraten ihr bestes Ergebnis seit Jahren einfahren und stärkste Kraft im dänischen Parlament werden, muss Thorning-Schmidt abtreten. Ihre Glückskurve bricht noch einmal ein, bis sie sich mit dem Job bei „Save the Children“ wieder fängt.
ZEIT: Wann folgt auf Ihrer Glückskurve Ihre Rückkehr in die Politik?
Thorning-Schmidt: Nie! (lacht) Ich war 25 Jahre in der Politik, ich habe alles gesehen!
ZEIT: Glauben Sie nicht, dass die EU in diesen Tagen überzeugte Europäerinnen wie Sie braucht?
Thorning-Schmidt: Ich bin ja noch da! Auch wenn ich jetzt für die Rechte von Kindern in der ganzen Welt eintrete.
Als Nächstes zeichnet Thorning-Schmidt ihre Geldkurve. In ihrer Kindheit lernt sie, sich zu bescheiden. Die Familie hat kein Auto, nicht mal eine Waschmaschine, und als sich die Eltern scheiden lassen, wird das Geld noch knapper. Erst als sie Mitte der 1990er Jahre die Leitung des Fraktionsbüros der Sozialdemokraten übernimmt, bekommt sie ein gutes Gehalt. Danach steigt die Kurve langsam, aber stetig an.
ZEIT: Wie sehr hat Ihre Kindheit Ihren Umgang mit Geld geprägt?
Thorning-Schmidt: Gar nicht. Geld hat mich nie getrieben, nur Leidenschaft. Ich hatte das Privileg, mein Leben lang etwas mit Leidenschaft tun zu können.
ZEIT: Dennoch wurden Sie als „Gucci-Helle“ bezeichnet, weil man Sie häufig mit teuren Handtaschen gesehen hat.
Thorning-Schmidt: Damit sollte ich diskreditiert werden. Die Menschen sollten denken, wenn diese Frau eine teure Tasche kauft, kann sie doch keine sozialdemokratischen Werte verteidigen. Ich bin aber überzeugt, dass wenige Regierungschefs so ein normales Leben geführt haben wie ich: Pünktlich nach Hause gehen, für die beiden Kinder kochen, einkaufen, die Kinder ins Bett bringen, waschen, sauber machen, Schulkonzerte besuchen – ich habe so gelebt wie viele andere Eltern auch. Das war manchmal hart, hat mich aber zu einer besseren Politikerin gemacht.
ZEIT: Warum?
Thorning-Schmidt: Es war zum Beispiel großartig, abends beim Essen mit meinen Kindern über Politik zu diskutieren. Sie haben oft darüber geklagt, dass meine Generation zu wenig gegen den Klimawandel unternimmt. Und sie wollten unbedingt das Wahlrecht ab 16 statt ab 18 Jahren.
ZEIT: Wie sehr ist die dänische Politik von Geld getrieben?
Thorning-Schmidt: Das ist zum Glück nicht entscheidend für den Erfolg. Als ich in die Politik gegangen bin, stand niemand hinter mir. Trotzdem habe ich es geschafft. Jetzt finde ich es großartig, noch einmal etwas anderes zu machen. Ich war reif für einen Wechsel.
Helle Thorning-Schmidt hat noch Zeit, um eine dritte Kurve zu malen – und entscheidet sich für ihre Lernkurve. Die steigt mit kleinen Unterbrechungen permanent an, besonders stark, als sich ihre Eltern trennen, dann mit ihren ersten Erfolgen in der Politik. Kaum ist die Kurve fertig, muss Thorning-Schmidt zum Flughafen. Im Taxi geht das Interview weiter. Die Szene erinnert an die Fernsehserie „Borgen“, die nicht nur in Dänemark sehr populär war, sondern auch in Deutschland viele Fans hat. Deren Hauptfigur heißt Birgitte Nyborg und ist dänische Regierungschefin – wie Helle Thorning-Schmidt. In der Serie entfremdet sich Nyborg von ihrer Familie und verbittert zunehmend. In einer Episode sitzt sie im Auto und erklärt, wie wichtig ihr Ideale sind – und wie sehr sie deswegen an der harten politischen Realität verzweifelt.
ZEIT: Welche Parallelen gibt es zwischen Ihnen und Birgitte Nyborg?
Thorning-Schmidt: Inhaltlich gibt es kaum welche. Aber in meiner Zeit als Ministerpräsidentin hat die Serie mir oft geholfen, im Umgang mit anderen Menschen das Eis zu brechen. Sie hatten das Gefühl, mich zu kennen, oder hatten zumindest eine Vorstellung davon, was es heißt, in der Politik Verantwortung zu tragen und gleichzeitig Mutter zu sein.
ZEIT: Der Produzent Ingolf Gabold hat einmal gesagt, dass „Borgen“ Ihnen auch dabei geholfen habe, Ministerpräsidentin zu werden. Es sei für die Menschen plötzlich viel selbstverständlicher gewesen, dass eine Frau an der Spitze der Regierung steht.
Thorning-Schmidt: Ihm war wichtig, eine Frau zur Hauptperson zu machen. Als die Serie anlief, war ich schon Oppositionsführerin. Es war also nicht unwahrscheinlich, dass Dänemark tatsächlich eine Ministerpräsidentin bekommen würde. Aber im Wahlkampf hat „Borgen“ weder geholfen noch geschadet.
ZEIT: Birgitte Nyborg verlässt die Politik vorübergehend, um für ein Unternehmen zu arbeiten. Würde Sie das reizen?
Thorning-Schmidt: Ich habe nichts gegen Politiker, die zu privaten Unternehmen wechseln. Aber ich bin froh, dass ich ziemlich schnell mit „Save the Children“ ins Gespräch kam. Der Wechsel fühlte sich sofort richtig an.
ZEIT: In Ihrer Regierungszeit haben Sie häufig mit der deutschen Kanzlerin zusammengearbeitet. Spielte dabei eine Rolle, dass sie beide Frauen sind, die jeweils ersten Regierungschefinnen in ihrem Land?
Thorning-Schmidt: Wir haben sehr eng zusammengearbeitet. Ich fand inspirierend, wie Angela Merkel mit ihrer Macht in Europa umging und dabei auch kleine Mitgliedsstaaten eingebunden hat. Das hat der EU gutgetan. Über das Frauenthema haben wir nie gesprochen, aber vermutlich spielte es unterschwellig eine Rolle. Uns verbindet, dass wir Dinge erledigen und Probleme lösen wollen.
von
Zeit Online – 31.01.2017