Besonders in Krisenzeiten sind Veränderungen nicht nur möglich sondern auch nötig, die normalerweise nie mehrheitsfähig wären. Im Chinesischen sind die Wörter Krise und Chance eng verwandt. Der griechische Wortstamm „krisis“ jedoch bezeichnet keine ausweglose Situation, sondern den Höhe- oder Wendepunkt einer gefährlichen Lage. Dass wir derzeit weltweit in Krisenzeiten leben, deren Treffer immer dichter an unsere europäische „Komfortzone“ einschlagen, werden wohl nur noch wenige bezweifeln.

Betrachten wir diese ungemütlichen Krisen um den Narzissten Trump, den als Populisten getarnten Neofaschisten, der griechischen Staatsverschuldung, dem Brexit, der Unfähigkeit vieler verantwortlicher europäischer Politiker doch mal aus der Perspektive der „Chance für Europa“. Ein Europa, das bekanntlich seit längerem in einer Identitätskrise steckt.

Ich wage in dieser Verbindung die Behauptung, dass die Europäische Union, in der Art und Weise, wie wir sie derzeit kennen, obsolet ist (um ein Trump-Wort zu nutzen). Die inneren Fliehkräfte, wie der Brexit, die Finanz- und die sog. Flüchtlingskrise sowie das Ausscheren Ungarns und Polens aus der europäischen Wertegemeinschaft, sind unverkennbare Vorboten. Tag für Tag wird deutlicher: Die EU muss sich ändern, will sie überleben. Die Krise ermöglicht einen solchen Paradigmenwechsel, der aber mit einer neuen Ehrlichkeit der Politik einhergehen muss. Weiter wursteln, wie bisher, wird nicht funktionieren.

Die EU ist seit Jahrzehnten der Sündenbock (nicht zuletzt in Dänemark mit ihrer Dansk Folkeparti und neuerdings auch in Deutschland mit diesem „AfD-Verein“) für alle möglichen Missstände. Von der Globalisierung bis zur angeblich steigenden Kriminalitätsrate – immer wieder werden Ursachen im Brüsseler-EU-„Moloch“ ausgemacht. Das ist ein bequemes Erklärungsmuster, mit dem sich viele Politiker in Europa gut arrangiert und das sie zu nutzen gelernt haben.

Schuld an irgendwelchen Missständen ist man demnach nicht national, vor Ort und man selbst schon gar nicht. Schuld tragen immer die anderen, die in „Brüssel“ – der wuchernde, verselbständigte politische Organismus, sozusagen der Golem, den die treuherzigen Nationalstaaten selbst geschaffen haben und nicht mehr unter Kontrolle bekommen. Das ist das Narrativ von Orbán, Kaczyński, Le Pen, Wilders, Petry und Thulesen-Dahl sowie den anderen EU-Extrem-Gegnern. Aber diese Sichtweise ist falsch. Jede Entscheidung, die „dort in Brüssel“ getroffen wird, ist von den Mitgliedsländern sanktioniert. Nichts läuft in der EU, ohne die nationalen Regierungen! Doch die Macht wollen diese nicht aus der Hand geben. Die Entscheidungsprozesse sind intransparent, und das sprichwörtliche Demokratiedefizit der EU ist ein Problem, das zu Recht heftig kritisiert wird. Doch das ist nicht ein Problem des „zu viel Europas“ – sondern es ist ein Problem, welches durch nationale Egoismen geschaffen wird. 

Zumindest sind nun die Alternativen deutlich: Es gibt den Victor Orbán, der in seiner Rhetorik Trump und Co. in nichts nachsteht. Orbán, der gemeinsam mit Le Pen und den anderen Rechtsaußen, ein Europa der Staaten fordert, das geprägt ist von einem engstirnigen Nationalismus. Dieser gibt wiederum keine Antworten darauf, wie man gedenkt, sich gegen die Erdoğans, Trumps, und Putins dieser Welt zu behaupten, sollten diese mal nicht so gut auf Budapest, København, Berlin oder London zu sprechen sein. „Hungary First“, klingt doch etwas lächerlich in diesem Kontext. Der feuchte Traum der Nationalisten, das „wieder-groß-machen“ der eigenen Nation, mag auf viele wie ein lächerlicher Anachronismus wirken, ist aber brandgefährlich.

Wenn die Nationalisten dieser Welt das Ruder übernehmen und jeder seinen eigenen nationalen Gartenzaun argwöhnisch überwacht, dann sind es die kleinen Länder (wie Dänemark), die verlieren werden. Der verzweifelte Versuch einiger „Granden“ der Dansk Folkeparti, zwischen Trump-Bewunderung und Putin-Verehrung, die NATO als Garant für die Sicherheit Dänemarks zu beschwören, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Denn nun mal Bitte ernsthaft: Wer sollte in den anbrechenden Zeiten der weltweiten nationalistischen Egoismen und Nullsummenspiele die Interessen (wirtschaftlich oder sicherheitspolitisch) Dänemarks wirksam und mit genug Power verteidigen können, wenn nicht die Europäische Union?  Europa muss sich zusammenreißen und sich selbst kümmern. Das ist auch im nationalen Interesse des kleinen Dänemarks wie auch des größeren Deutschlands sowie aller anderen Staaten in der Europäischen Union, denn nur zusammen sind sie stark. 

von

Günter Schwarz – 04.02.2017