Die Macht der Sprache. – Was wir meinen, wenn wir „Flüchtling“ sagen?
Seit Beginn der syrischen Flüchtlingskrise ist der Begriff „Flüchtlingsstrom“ ein Dauerbrenner in den Medien. Auch weil ihn Politiker aller Couleur benutzen – gerne wenig kritisch und einfach „nur so“.
„Flüchtlingsstrom“

Flüchtlingsstrom: Ist immer wieder Gegenstand von Sprachkritik – aber nicht zwingend populistisch. Keystone
Der Wortbestandteil „Strom“ ist metaphorisch und setzt eine beliebte Praxis fort, die im Diskurs um Zuwanderung seit Jahrzehnten besteht: nämlich den Rückgriff auf Ausdrücke aus dem Metaphernfeld „Wasser“.
Ein „Strom“ kann zerstörerisch alles mit sich mitreißen. Er kann aber auch Energie liefern. Hier wird in jedem Fall der Kontext entscheidend, und es wäre nicht zielführend, jede Verwendung von „Flüchtlingsstrom“ als populistisch zu bezeichnen.
„Waldsterben“

Waldsterben ging als Germanismus in den internationalen Diskurs. Keystone
Das „Waldsterben“ bildete ein Gegenstück zur „Schönfärberei“ – ein Dysphemismus. Mit dem Waldsterben hat die deutschsprachige Umweltbewegung in den 1980er Jahren in dramatisierender und zuspitzender Weise auf Giftbelastungen in deutschen Wäldern hingewiesen.
Der rhetorische Effekt dieser Zuspitzung war unterstützt durch die Bebilderung mit Ansichten kahler Hänge mit einzelnen toten Bäumen immens. „Waldsterben“ ging als Germanismus in den internationalen Diskurs ein.
„Entwicklungshilfe“

Nothilfe-Projekt für Kinder in Äthiopien: Der Ausdruck Entwicklungshilfe wird fast nicht mehr verwendet. Keystone
Bei der Verwendung des Wortes „Entwicklungshilfe“ scheint das Problem weniger ein sprachliches als ein sachliches zu sein. Der Ausdruck ist treffend für das, was man aus Sicht der Industrieländer meinte, als man begann, Entwicklungshilfe zu leisten. Er entspricht der damit bezeichneten Politik.
Von der Untauglichkeit und Kurzsichtigkeit dieser Politik haben sich inzwischen wohl die meisten politischen Kräfte in Europa überzeugt. Der Ausdruck wird im offiziellen Kontext deshalb immer weniger verwendet – wegen politischer, nicht wegen sprachlicher Einsicht.
„Retortenbaby“

Louise Brown: Auch das allererste Retortenbaby erblickte schreiend das Licht der Welt. Keystone
Der Ausdruck dürfte von Beginn an nur von Gegnern des Versuchs künstlicher Befruchtungen verwendet worden sein. Obwohl man nicht sagen kann, dass er sachlich grundsätzlich unzutreffend ist, lenkt er doch die Aufmerksamkeit bewusst auf den Aspekt des Labors mit all seinen Assoziationen zu Frankenstein. Und er verknüpft ihn mit einem Wort, das wie kaum ein anderes für menschliche Zuwendung steht: „Baby“.
Die Aspekte, die Befürwortern wichtig sein dürften, blendet er aus. Etwa, dass das genetische Material dieser Befruchtung kein künstliches und das Motiv in der Regel der Wunsch eines Paares nach nicht irgendeinem „künstlichen“ ist, sondern eben „ihrem“ Kind.
Interessant ist, dass der heute weitgehend neutral verwendete Terminus „In-vitro-Fertilisation“ (Befruchtung im Glas) im Grunde den gleichen Aspekt betont. Nicht nur Sprachgebrauch, auch Sprachkritik ist eben immer perspektivisch zu betrachten.
„Social Media“

Ist spezifisch für die deutsche Sprache: das Unbehagen am Begriff Social Media. Keystone
Man könnte jemandem, der im Deutschen von „Social Media“ spricht, statt den vorhandenen Ausdruck „Soziale Medien“ zu verwenden, vorwerfen, mit einem Anglizismus imponieren zu wollen. Das greift aber, wie voreilige Anglizismenkritik so oft, wohl zu kurz.
Schaut man sich nämlich an, warum der Ausdruck „Soziale Medien“ immer wieder zum Gegenstand öffentlicher Sprachkritik wird, sieht man, das Problem in dieser Form ist spezifisch für die deutsche Sprache.
Der Vorwurf lautet, der Ausdruck ist irreführend, weil die kommunikativen Verhaltensweisen in Facebook, Twitter, Instragram & Co. oft gar nicht „sozial“ seien, sondern eher „asozial“ wie im Falle der so genannten „Hate Speech“.
„,Sozial‘ ist im Englischen nicht in gleicher Weise mehrdeutig wie im Deutschen.“
Diese Kritik lässt außer Acht, dass „sozial“ im Deutschen und „social“ im Englischen nicht in gleicher Weise mehrdeutig ist. Neben der Verwendung als Hochwertausdruck, bei der „sozial“ etwas ist, das zum Nutzen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens passiert, ist „sozial“ auch ein neutraler Beschreibungsbegriff. Er bedeutet: „Auf eine Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft bezogen.“
Und genau dieser Bedeutungsaspekt liegt dem Ausdruck „Social Media“ und seiner Verdeutschung „Soziale Medien“ zugrunde: Über soziale Medien „teilt“ man Daten, Informationen und Meinungen mit anderen, zu denen man in irgendeiner Beziehung steht. Dagegen – und in diesem Sinne auch gegen das Wort – ist im Grunde nichts einzuwenden.
von
Günter Schwarz – 05.02.2017