Deutschland versteht sich selbst als wichtigster Mitgliedstaat der EU. Man betont wortreich den Innovationsstandort Deutschland, die wirtschaftliche Stärke und Zukunft des Landes; nicht selten mit einem selbstgefälligen Vergleich mit anderen Ländern, in denen die Prognosen (nach deutschen Maßstäben) ja so viel schlechter stünden.

Russland ist eines der Länder, dessen Bevölkerung in Deutschland nur zu gern diskreditiert und von oben herab betitelt wird. „Der Russe“ habe in keinem Fall eine so rosige Zukunft wie die Bürger in Deutschland.

Vergessen wird dabei, dass die Zukunft eines Landes sich mit den nachrückenden Generationen definiert. Während man bei dieser in Deutschland zunehmende Bildungsferne beklagt und sich diverse Radiosender mit Podcasts wie „Pisa-Polizei“ (NDR – N.Joy) und „Der FFH-Dummfrager“ über die Dummheit der Jugendlichen lustig machen, arbeiten junge Russen hart an Bildung und Charakter. Dies nicht erst seit gestern. Schon Ende der 90er wurden Studenten der Sankt Petersburger State University von deutschen Universitäten „eingeladen“ (Universität Leipzig), um an diversen Forschungsprojekten mitzuwirken. Warum deutsche Universitäten auf die Mitarbeit von russischen Studenten angewiesen sind, lassen wir unkommentiert.

Wir treffen Anna Davydova, eine junge Russin aus Irkutsk. Die Hauptstadt des russischen Oblast Irkutsk liegt weit im Osten – etwa 70km vom Baikalsee entfernt. Anna erreichte mit 16 Jahren den Titel „Master of Rhythmic Gymnastics“ und nimmt seitdem an diversen Wettkämpfen in dieser Leistungssportart teil.


Anna beim täglichen RG-Training

Annas Eltern haben den Sport stets unterstützt. Überhaupt ist Anna der Meinung, dass viele Eltern in Russland dafür sorgen, dass die Kinder sich sportlich oder kulturell betätigen, um die Kinder vor Langeweile und Alkohol- oder Drogenmissbrauch zu schützen. Neben der Schule ist also die Mitgliedschaft in irgendeinem Verein oder Club ein wesentlicher Bestandteil im Alltag junger Russen. Weil Anna ein sehr aktives Kind war, entschieden sich ihre Eltern für Sport. Die Wahl fiel dabei auf Rhythmische Sportgymnastik, weil das Training in der Nähe war.

Der Sport scheint wie gemacht für die 1,82m große Russin, die mit 58kg auch jetzt noch eine sehr schlanke Erscheinung ist. Hungern täte sie dabei nicht, betont sie: »Ich versuche, gesund zu essen und die Natur hat mich so gemacht.« Der Erfolg im Sport sei allerdings keinesfalls ein Zufall:

»Talent ist nur 10% des Erfolges – der Rest ist wirklich harte Arbeit!«

In Deutschland erfahren Kinder und Jugendliche, die entweder sehr schlank oder dick sind, oft Ablehnung und Mobbing. In Russland gibt es dieses Problem überhaupt nicht. Hin und wieder bemerkten Freunde und Mitschüler, dass Anna „sehr dünn“ sei. Mobbing oder Gemeinheiten sei sie aber nie ausgesetzt gewesen. »Am Ende bin ich auch nicht abhängig von der Meinung anderer Leute.«, sagt sie selbstsicher.

Obwohl Anna täglich trainiert, hilft sie nebenbei im Betrieb ihrer Eltern und nimmt hin und wieder Aufträge als Model an. Viele Mädchen in Deutschland träumen von einer Karriere als „Top Model“. Für das modeln gelten natürlich die gleichen Regeln, wie für alles andere, betont Anna: »Ohne harte Arbeit ist da nichts zu machen.«

Die Frage, ob sie lieber eine erfolgreiche Gymnastin oder ein bekanntes Model sein würde, bringt die Russin ins Grübeln. »Eine Gymnastin verdient nicht so viel Geld wie ein erfolgreiches Model – also würde ich mich letztlich für eine Karriere als Model entscheiden.«, gibt sie zu.


Auch als Model macht Anna eine gute Figur.

Ihre Antwort belegt letztlich, dass sich die Wünsche und Träume junger Menschen kaum voneinander unterscheiden. Der Unterschied wäre lediglich, dass junge Russen dazu neigen, sehr verbissen und ambitioniert an diesen Träumen und Wünschen zu arbeiten. Dies nicht nur in Sport, sondern ebenso in Kunst, Kultur oder Wissenschaft. In all diesen Kategorien sind Kinder und Jugendliche in Russland denen in Deutschland oft haushoch überlegen.

Und das ist ein Umstand, der sich ganz selbstverständlich auch auf die Zukunft eines Landes auswirken wird.

Warum so viele junge Menschen in Deutschland nicht an sich und ihren Fähigkeiten arbeiten, kann Anna überhaupt nicht nachvollziehen.

»Setzt euch Ziele – arbeitet für diesen Traum und gebt niemals auf!«

,ist ihre Botschaft.

Anna bei den russischen RG-Meisterschaften 2013 – Einzel, Reif

von
Michael Schwarz – 10.02.2017