Die türkische Regierung ist auf dem zu Weg einer Verfassungsänderung, die dem Präsidenten umfassende Machtbefugnisse einräumen würde. Eine Volksabstimmung soll entscheiden. Deutsch-Türken wählen mit und die AKP mobilisiert auch ihre Anhänger in Deutschland.

Der Journalist Deniz Yücel, Korrespondent der Zeitung Welt, wurde in der Türkei in Gewahrsam genommen und bisher keinem Richter vorgeführt. Bisherigen Erkenntnissen zufolge werden ihm Vergehen nach dem türkischen Antiterrorgesetz und Datenmissbrauch vorgeworfen. Offenbar stehen die Ermittlungen im Zusammenhang mit seiner Berichterstattung über Wikileaks-Veröffentlichungen im Oktober 2016. Darin hatte die Enthüllungsplattform Dokumente veröffentlicht, aus denen unter anderem Hinweise auf Waffengeschäfte zwischen der Türkei und terroristischen Vereinigungen in Syrien hervorgehen sollen. 

Während Yücels Schicksal ungewiss ist, wird der Kampf um die absolute Macht Erdoğans, die das Ziel der geplanten Präsidialverfassung sein soll, auch in Deutschland ausgetragen. Seit dem Putschversuch befindet sich die Türkei im Ausnahmezustand und macht es der AKP möglich, die öffentliche Debatte über eine Verfassungsänderung in ihrem Sinne zu lenken. 

Dazu meint die Linken-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen: „Wer, während deutsche Journalisten in der Türkei verhaftet werden, dem türkischen Ministerpräsidenten eine Bühne für seinen Werbefeldzug zur Abschaffung der Demokratie bietet, handelt unverantwortlich.“

Im nordrhein-westfälischen Oberhausen bejubelten unterdessen fast 10.000 Deutsch-Türken ihren türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildrim und idealisierten eine Heimat, die viele nur aus Erzählungen ihrer Eltern oder Großeltern kennen. An diesem Tag war die deutsche Heimat der 1,4 Millionen Deutsch-Türken, die in der Türkei mitentscheiden dürfen, vergessen. Türkische Fahnen wurden geschwenkt und die Teilnehmer gaben ihrer Zugehörigkeit zu der religiös-konservativen Partei AKP unter anderem durch „Allahu akbar“-Rufe Ausdruck. Auch Erdoğan plant, bei seinen Exil-Anhängern in Deutschland auf Stimmenfang für das Referendum zu gehen.

Die Bundesregierung sorgt sich um einen weiteren Konfliktimport der Spannungen zwischen Kurden und Türken, AKP und Gülen-Anhängern, Putschisten und der AKP. Das Chaos in der Türkei nährt den Terror. Mehr als 200 Opfer gab es in der Türkei aufgrund von Terroranschlägen alleine im Jahr 2016. Angesichts der Krisen im Land hat die türkische Lira an Wert verloren. Assoziierten viele Türken mit Erdoğan eine Zeit des Aufschwungs in der Türkei, so drängt mittlerweile die Zeit für ihn, Erfolge auf den Tisch zu bringen. Ein möglicher Weg wäre die Wiederannäherung an die EU durch Beitrittsverhandlungen oder eine ungehinderte Bewegungsfreiheit seiner Bevölkerung innerhalb des Schengenraums zu erreichen. Im Unterschied zur EU ist die Visafreiheit ein Thema, das einen erheblichen Teil der Türken durchaus bewegt. Ein Druckmittel Ankaras sind dabei die unzähligen Flüchtlinge, mehrheitlich aus Syrien und dem Irak, die in der Türkei gestrandet sind, um den Konflikten ihrer Heimat zu entkommen. 

Die amtierende konservative AKP-Partei und die nationalistische MHP sprechen sich für das mögliche Präsidialsystem aus. Für eine Reform stimmten im Parlament 339 Abgeordnete, 142 sprachen sich dagegen aus. Nicht nur Regierungsgegner wie der einstige Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet, Can Dündar, sehen das Land in die Diktatur abgleiten. Die AKP beschwichtigt dagegen, dass es sich um ein ähnliches System wie in den USA handeln werde.

Die Verfassungsänderung zöge nach sich, dass Erdoğan Staats- und Regierungschef in einer Person werden würde. Er hätte dann unter anderem die Macht inne, esetzesänderungen per Veto Einhalt zu gebieten. Weiterhin könnte er Minister ins Amt berufen, ohne dabei das Parlament heranziehen zu müssen. Eine Parteiunabhängigkeit des Präsidenten wäre nicht mehr notwendig.

Infolge des Putschversuches im Juli des Vorjahres wurden auch tausende Lehrer, Professoren und Rektoren verhaftet. Bei einer Verfassungsänderung könnte Erdoğan über die Leiter der Universitäten selbst bestimmen. In einem Aspekt sind Dündars Sorgen schon einmal nicht gänzlich von der Hand zu weisen: Während das amerikanische System den Kongress als das höchste Organ über dem Präsidenten hat, wäre dies in der Türkei nicht der Fall.    

Aber auch in Deutschland soll die Regierung Erdoğan versuchen, Einfluss zu üben. Dieser solle sogar soweit gehen, dass in den Klassenzimmern Meinungsbildung im Sinne der Anhänger Erdoğans stattfindet. Türkische Konsulate haben demnach Druck auf deutsche Lehrer ausgeübt, keine Kritik am türkischen Staat und dessen Präsidenten zu üben. Süleyman Ates, Mitglied des Leitungsteams des GEW-Bundesauschusses für Migration, fasste zusammen: „Die türkischen Konsulate drängen Eltern dazu, Lehrer einzuschüchtern und Lehrer zu melden, die Kritik an der Türkei oder an Präsident Erdoğan üben.“   

Türkische Konsulate hätten Eltern und Lehrer zudem zu Veranstaltungen geladen, um sie gegen die Türkei-Kritik zu impfen und als Spitzel Erdogans anzuwerben. Regierungsnahe türkische Aktivisten werfen ihrerseits der GEW Einmischung und Moralimperialismus vor. Sie verweisen darauf, dass diese vor wenigen Jahren sogar positive Darstellungen des säkularen türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk in türkischen Schulbüchern für den deutschen Schulgebrauch als „zu nationalistisch“ gebrandmarkt hatte.

Das Bundesland NRW fürchtet den Auftritt Erdoğans auf seinem Gebiet und braucht die Unterstützung Berlins, um dem damit verbundenen Sicherheitsrisiko Einhalt zu gebieten. Bereits 2008 und 2014 kamen Tausende, um Erdoğan in der Kölner Lanxess-Arena zuzujubeln. Aber dies war vor dem Putschversuch durch Teile des Militärs, der uns damals Bilder wie aus einem Bürgerkriegsland lieferte. 

Yücel ist nur einer von derzeit rund 170 verhafteten Journalisten in der Türkei. Als Datum für die Abstimmung des Volkes ist der 16. April angedacht. Gegner des Präsidialsystems hoffen vor allem auf die verbliebenen Atatürk-Anhänger und deren Nein. Diese könnten, so argumentieren sie, über das Erbe ihres Idols abstimmen und hoffen, dass sie in der Mehrheit sein werden.

Atatürk hatte vor fast 100 Jahren den Weg in die Demokratie geebnet und Religion und Politik strikt getrennt. Am 23. April wird der türkische Nationalfeiertag im Gedenken an Atatürk begangen. Zunächst war dieser Tag als Wahl für das Referendum im Gespräch, aber dies wäre, so spekulieren Gegner, ein schlechtes Omen für Erdoğans Vorhaben gewesen. Andererseits sind nicht alle Atatürkisten geschlossen gegen das Präsidialsystem. Insbesondere unter den stramm Rechtsnationalisten versprechen sich viele stärkere staatliche Institutionen, was aus ihrer Sicht auch im Sinne ihres politischen Vorbildes wäre. Ihr Ja zum Präsidialsystem ist keine Zustimmung zu Erdoğan, der sich einen neuen Palast hat bauen lassen und oft als der neue Sultan bezeichnet wird, der von einem Wiedererstarken des osmanischen Reiches träumt.    

Die AKP und MHP argumentieren, dass eine Verfassungsänderung notwendig sei, um im Land wieder die notwendige Stabilität herbeizuführen. Kritiker werfen Erdoğan seit seiner Wahl 2014 Verfassungsbruch vor. Demnach wäre ein Referendum nur eine Bestätigung seiner Politik.

von

Günter Schwarz – 22.02.2017