Russland 1917: Das Jahr, das die Welt auf den Kopf stellte
Dieser Tage jährt sich die russische Februar-Revolution zum hundertsten Mal. Dank modernen Medientechnik sind weit zurückliegende Ereignisse des Jahres 1917 heute so nah wie nie zuvor. In Russland denkt man die Februar- und die Oktoberrevolution heute neu.
Die faszinierenden Ereignisse des Jahres 1917 ziehen die Menschen heute mehr denn je in ihren Bann. Weltweit. Die Medien bedienen sich moderner Nachrichtentechniken wie Reportagen oder sozialer Medien, um ihren Konsumenten den Aufstand in Petrograd heute Sankt Petersburg vom Ende Februar 1917 nach der alten julianischen Zeitrechnung am 23. Februar, was nach dem jetzt gültigen gregorianischen Kalender dem 8. März entsprach, zum Anfassen nahe zu bringen.
Fotogene Revolution
Das hat natürlich zum Teil auch mit der Fotogenität der Ereignisse zu tun. Die Februar-Revolution ist in Gestalt von Foto- und Kinochroniken sehr gut dokumentiert. Damit und mithilfe der vielen Berichte von Zeitzeugen oder Aufzeichnungen von Beobachtern lassen sich alle damaligen Ereignisse minutiös rekonstruieren. Dabei entsteht ein mehrdimensionales, facettenreiches Bild. Die Bilder von Matrosen und Soldaten mit ausgestreckten Gewehren auf den verschneiten Straßen im revolutionären Petrograd stehen sinnbildlich für eine Revolution. Nur Stunden zuvor hatten sie ihre Vorgesetzten entmachtet, oft auch ermordet.
Die Klarheit der Bilder und ihre Aussagekraft beeindrucken nicht nur die Nachkommen der damaligen Beteiligten in Russland. Vor allem im Westen verstehen Geschichtsinteressierte diese Bilder nur allzu gut. Ganz Europa stand unter Waffen, ein Krieg führte den Kontinent in eine Sackgasse, die beteiligten Länder hatten sowohl im Inneren als auch im Äußeren mit den gleichen Problemen zu kämpfen. Doch nur in Russland kam es zu einer Revolution.
Die Macher der Zaren
Nur drei Jahre zuvor, ab dem 21. Februar 1913, hatte Russland über mehrere Tage das 300-jährige Bestehen der Romanow-Dynastie gefeiert. Sowohl das Volk auch die Oberschicht schienen damals zu ihrem Zaren zu stehen. Die patriotische Begeisterung in den ersten Kriegsmonaten bestätigte nur diesen Eindruck. In dreieinhalb Jahren jedoch fegten sie mit vereinten Kräften den Zaren weg. Das Volk erwies sich einmal mehr als Souverän, als Macher der Geschichte.

Im Februar 1917 hatten die Protesten das ganze Land erfasst. Auf dem Bild: Eine Demonstration in Wladiwostok. Auf den Bannern steht: „Es lebe der internationale Sozialismus“, „Es lebe das freie Russland“, „Es lebe der Feiertag der Werktätigen in der ganzen Welt“, usw.
Ohne einen Monarchen drohte dem Land Zerfall und Niedergang. Nach den Verwerfungen und Verwüstungen der Wirren wurde durch eine Landesversammlung – Semski Sobor – ein Zar auf den Thron gewählt. Die Wahl fiel auf den Sohn des Patriarchen Philaret, den jungen Michail Romanow.
Hatten die Menschen in Russland, mittlerweile in der anderen Hauptstadt, etwa nicht deshalb auch das Recht, den Zaren selbst zu entmachten? Wer von den Protagonisten der Revolution hatte im Getümmel der Ereignisse geahnt, dass sie mit der Entmachtung des Zaren wieder die Zeiten der Wirren einläuten würden?
Verteidiger der Monarchie gab es zu Genüge. Doch diese hatten keine Argumente, die zur dramatischen Tagesordnung passten. Die Person des Zaren, seine Unfähigkeit, zu regieren und richtige Entscheidungen zu treffen, gilt auch bis heute immer noch als einer der Gründe, wenn auch nicht der tiefgreifendste, für die Revolution.
Armee im kriegsmüden Land
Ein kurzer Blick soll in Erinnerung rufen, was damals im Kern geschah: Nach schmerzvollen Niederlagen und dem Verlust großer Territorien im Westen des Reiches an die Deutschen war das Land hin- und hergerissen in der Frage, ob und wie man den Krieg weiterführen sollte. In ganz Europa verhandelten Mächte miteinander und spionierten einander gleichzeitig aus.
Allenthalben spannen Staatsmänner und Diplomaten Intrigen. Im ausgebluteten Land gab es zunehmend Probleme mit der Versorgung. Die Armee zerfiel, linke und nationalistische Agitatoren waren in den Schützengraben sehr aktiv. Zahlreiche Separatismen breiteten sich rasch im Vielvölkerreich aus.
Es ist eine gängige Vorstellung, dass die leeren Regale in den Bäckereien zum Auslöser für die Straßenproteste wurden. Schlangen bildeten sich, es begann die Zeit der so genannten Frauenmeute. Das Brot war da, doch entweder durch Sabotage oder durch krisenbedingte Probleme mit der Logistik haben sich die Lieferungen hinausgezögert.
Demonstrationen füllten die Straßen, die bewaffnete Polizei blieb zunächst regierungstreu, ein Teil der Streitkräfte begann aber, die Demonstranten zu unterstützen. Es kam zu Zusammenstößen. Über 200.000 Soldaten waren in Petrograd stationiert und es gab ausreichend Munition.

Nach dem Ende der Sowjetunion findet zunehmend eine Verehrung des letzten Zaren als Märtyrer statt. Monarchistische Stimmungen bleiben aber randständig. Hier: Das Denkmal „400 Jahre Romanow-Dynastie“. Links ist der erste Zar Michail Romanow abgebildet, rechts der letzte, Nikolai der Zweite.
Er war ein guter Familienvater, aber ein talentloser Regent. Seine Abdankung unterschrieb Nikolai, ohne den Zug zu verlassen. Als Zar stieg er in den Zug ein, ausgestiegen ist er als Bürger Romanow. Das geschah am 2. März – nach Gregorianischem Kalender wäre es der 15. März gewesen – nur zwei Wochen nach dem Beginn des ersten Streiks in den Putilow-Werken am 18. Februar.
„Überall nur Verrat“, schrieb der Zar in sein Tagebuch.
Selbst Mitglieder der Zarenfamilie ließen Nikolai im Stich. Pläne, jemanden anderen auf den Thron zu hieven, wurden schnell verworfen. Nicht nur die Person des Zaren war entmachtet, sondern die Monarchie als Institution. Schnell bildeten sich zwei Machtzentren – eines in der Duma, die auch die Provisorische Regierung stellte, und das Komitee der Soldaten und Arbeiter. Die Regierung hat den Zaren dazu aufgefordert, abzudanken. Die revolutionäre Euphorie nach dem Sturz der Monarchie dauerte aber nur wenige Wochen.
Klassenspannungen nur offengelegt
In den darauf folgenden Monaten entstand ein regelrechter Klassenkampf zwischen den bürgerlichen Anhängern der Regierung und den Proletariern, die Soldaten- und Arbeiterräte vertraten. Die inneren sozialen Spannungen, der über Jahrhunderte aufgestaute Hass der Benachteiligten waren zu gewaltig.
Der Krieg war nicht zu Ende, die Armee löste sich dennoch endgültig auf. Marodierende Soldaten füllten das ganze Land. Und sie waren bewaffnet. In nur wenigen Monaten wurde das Riesenreich unregierbar. Revolutionäre aller Couleur sahen ihre Stunde gekommen, um sich am Machtkampf zu beteiligen.
Die Gründe für diesen Zustand lagen auch in der veralteten sozialen Struktur eines sich rasch modernisierenden Landes. Der Krieg hat diese Probleme nur offengelegt. Bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts befand sich das Land aber im Zustand eines verdeckten Krieges zwischen den zahlreichen Revolutionsgruppen und den zaristischen Sicherheitsorganen – vor allem der zaristischen Geheimpolizei, der Ochranka. Bereits im Jahr 1905 war es zu bewaffneten Auseinandersetzungen gekommen, der Versuch einer Revolution scheiterte damals jedoch.
Zwei Höhepunkte der Revolution
Die Ereignisse im Februar und März 1917 waren zahlreicher und blutiger als im Oktober, als die Bolschewiki, der radikale Flügel der Sozialdemokratischen Partei mit Wladimir Lenin an der Spitze, die Provisorische Regierung entmachteten. Dennoch stand die Februar-Revolution lange Jahrzehnte in der Sowjetunion – dem Staat, den die Bolschewiki gründeten – im Schatten der, wie man sie nannte, Großen Sozialistischen Oktoberrevolution.
Heute betrachtet man in Russland diese Ereignisse als verschiedenen Stadien ein und derselben Revolution. Es gibt noch viel zu überdenken und zu verstehen über das, was damals wirklich geschah und welche Lehren daraus zu ziehen sind. Ein wichtiger Aspekt für die Analysen bleibt die Tatsache, dass die Grenzen des Russischen Reiches und jene der Sowjetunion mit Ausnahme von Polen und Finnland, die ohnehin im Reichsgebiet einen Sonderstatus genossen, weitgehend übereinstimmten. Und das, obwohl der Staat im Jahre 1917 dabei war, sich aufzulösen.
von
Günter Schwarz – 12.03.2017