Gefährdet Recep Tayyip Erdoğan mit seinem Handeln den Frieden in der Bundesrepublik? Dieser Frage ging am Sonntagabend Anne Will nach. Kabarettist Sedar Somuncu fordert bei Anne Will das Aus für den Doppelpass als Konsequenz aus dem Streit mit der Türkei. Der Pass sei ein Integrationshindernis. Der Erdoğan-nahe Journalist Rahmi Turan kritisiert BND-Chef Kahl scharf.

Die Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland sind inzwischen zwar abgesagt, der Konflikt mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist damit aber nicht beendet. Seit herausgekommen ist, dass der türkische Geheimdienst MIT hierzulande im großen Stil angebliche Staatsfeinde ausspionieren lassen wollte, wird erneut über Reaktionen diskutiert. Müssen die EU-Beitrittsverhandlungen beendet werden? Gehört die doppelte Staatsbürgerschaft abgeschafft? Auch Anne Will griff das Thema am Sonntagabend erneut auf. „Spitzelvorwürfe, Beschimpfungen, Drohungen – Gefährdet Erdoğan unseren inneren Frieden?“

Zu dieser Themensetzung gehörte eine Portion Mut. Mit der Sendung von diesem Sonntagabend drehten sich bereits drei der fünf jüngsten Talkshows von Anne Will um das Thema Türkei. „Richtig beobachtet, das ist nicht unsere allererste Sendung“, begrüßte die Moderatorin ihr Publikum zu der diesmal unter die Überschrift „Spitzelvorwürfe, Beschimpfungen, Drohungen – Gefährdet Erdoğan unseren inneren Frieden?“ gestellten Sendung. Die Begrüßung klang entschuldigend. Nötig war die Verteidigung des Themas, gerade im Nachhinein, aber nicht. Vor allem dank der selbstbewussten und meinungsstarken Gäste entwickelte sich eine vielschichtige, flotte Debatte.

Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD), der Chef der Jungen Union, Paul Ziemiak, die Rechtsanwältin Seyran Ates, der Kabarettist Serdar Somuncu und der Journalist Rahmi Turan diskutierten vor dem Hintergrund der massiven Spitzelvorwürfe gegen den türkischen Geheimdienst MIT.

Pistorius hatte bekannt gemacht, dass der MIT Amtshilfe vom deutschen Geheimdienst beim Ausspähen mutmaßlicher Unterstützer der Gülen-Bewegung erbeten hatte. Ein paar Tage nach dieser Veröffentlichung hält der Sozialdemokrat diese Anfrage mittlerweile für eine öffentlichkeitswirksame Scheinanfrage. „Ich glaube inzwischen mehr, dass es eine Provokation war“, sagte Pistorius. Dass er den Vorgang überhaupt öffentlich machte, hält er auch nach Kritik aus der Union weiter für richtig. Er glaube, dass zu Recht die auf der MIT-Liste stehenden Betroffenen – darunter die SPD-Politikerin Michelle Müntefering – gewarnt worden seien. „Es gibt teilweise eine aufgeheizte Stimmung in der türkischen Community.“ Bisher habe sie sich nicht entladen, allerdings sei nicht sicher, dass dies so bleibe. Es wäre fatal gewesen, wenn diese Personen etwa arglos in die Türkei gereist wären und ihnen dort wegen der Vorwürfe nachgestellt worden wäre.

Journalist hält BND-Chef für falsch im Amt

Anders als etwa beim Aufeinandertreffen von Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) auf den türkischen Sportminister Akif Çağatay Kılıç hatte Will diesmal keinen Erdoğan-Hardliner unter den Gästen. Allein Journalist Turan, der Korrespondent eines Erdoğan-nahen Senders in Deutschland ist, versuchte den Präsidenten zu verteidigen. Gegen die internationale Meinung schob auch Turan die Verantwortung für den gescheiterten Putsch in der Türkei im vergangenen Jahr der Gülen-Bewegung zu. „Es gibt genügend Beweise“, behauptete Turan – um diese aber im Wesentlichen schuldig zu bleiben. Dass der Chef des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, die Beweise ausdrücklich bestreitet, ließ Turan nicht gelten. Dann sei Kahl entweder „falsch im Amt oder er lügt“ – dies blieb aber der einzige Angriff unter der Gürtellinie.

Turan personifizierte auch einen Teil der politischen Debatte, die derzeit in Deutschland geführt wird. Auf die Gretchenfrage, wer denn sein Präsident sei, antwortete er, „meine Bundeskanzlerin heißt Merkel“. Turan hat schon vor Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen und keinen türkischen Pass mehr. Offensichtlich hindert ihn auch das nicht, weiter eine gewisse politische Nähe zum türkischen Präsidenten zu pflegen.

Wie mit dem Staatsbürgerschaftsstatus umzugehen ist, ist eine Debatte, die die drei Gäste mit türkischen Wurzeln sehr spannend ausfochten. Auch hier zeigte sich eine Diskrepanz. Der etwa aus der „heute show“ im ZDF populäre Somuncu bemängelte platte Hasstiraden auf seiner Facebook-Seite.

Somuncu hält Doppelpass für Integrationshindernis

Und Anwältin Ates sagte, „ich werde ganz sicher als Vaterlandsverräterin auf Grund der Sendung beschimpft.“ Bei ihr heiße es nach öffentlichen Auftritten, bei denen sie die Politik Erdoğans kritisiere immer pauschal, sie mache die Türkei schlecht. „In dieser Einfachheit verhält es sich.“ Die Diskrepanz zu den derzeit scharfen, oft populistischen Debatten über das Thema Türkei lag nun darin, dass sich weder Ates noch Somuncu von dieser Plattheit anstecken ließen.

Die beiden, die ebenfalls nur noch die deutsche Staatsbürgerschaft haben, diskutierten intensiv den Sinn der doppelten Staatsbürgerschaft. Somuncu hat sich hier nach eigenen Worten vom Befürworter zum Gegner gewandelt. Er hält den Doppelpass gar für ein Integrationshindernis und schilderte dies am Beispiel der Erdoğan-Unterstützter in  Deutschland. „In Deutschland zu leben und sich dann auf die Straße zu stellen und zu demonstrieren, für die Todesstrafe in der Türkei und angebliche Demokratie und Menschenrechte, das ist ein Affront gegen die Gastgeber“, sagte Somuncu. Das Land Deutschland habe die hier lebenden Türken sehr unterstützt.

„Es war ein Fehler, diese doppelte Staatsbürgerschaft“, sagt der Kabarettist. Somuncu forderte deshalb, die in Deutschland lebenden Türken zur Entscheidung über ihre Staatsangehörigkeit aufzufordern. Aber ob das in der emotional aufgeheizten Stimmung zur Entspannung beitragen würde? Trotz einiger Sticheleien gegen die CDU und JU-Chef Ziemiak befand sich Somuncu damit genau auf der Linie des Konservativen. Ziemiak hatte auf dem CDU-Parteitag gegen den Willen Merkels einen Antrag durchgesetzt, die doppelte Staatsangehörigkeit wieder abzuschaffen. Er sieht nach der Bundestagswahl den Moment, dies anzugehen.

Dagegen verteidigte Ates das Modell der doppelten Staatsbürgerschaft zusammen mit Pistorius. Für Millionen Menschen bringe sie einen Nutzen, sagte die Anwältin. Und Pistorius lehnte alleine aus dem Grund der politischen Verlässlichkeit ab, die erst zu Beginn dieser Legislaturperiode reformierte Staatsbürgerschaftsgesetzgebung wieder zu verändern. Das Staatsangehörigkeitsprinzip könne doch nicht davon abhängig gemacht werden, wie das Verhältnis zu einem anderen Staat ist, sagte der SPD-Innenminister.

Sendung: Anne Will vom 2. April 2017

 

 

 

 

„Das ist jetzt nicht unsere erste Sendung zum angespannten Verhältnis mit der Türkei“, hatte Will zu Beginn der Sendung eingeräumt. Trotzdem war sie durchaus aufschlussreich, was vor allem an der Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft lag.

von

Günter Schwarz – 03.04.2017