Um sich dem Volk anzunähern, lassen Sender zunehmend den „kleinen Mann“ zu Wort kommen, so auch bei Maischberger. Eigentlich eine gute Sache. Wäre da nicht die Politik. Die ARD-Moderatorin Sandra Maischberger lud am Mittwoch das Publikum ein, über soziale Gerechtigkeit in Deutschland zu diskutieren. Es wurde eifrig debattiert, mit dem Ergebnis, dass offenbar keiner dem anderen was gönnt. Der Höhepunkt: Ein Rentner knöpfte sich polemisch eine Familie mit vier Kindern vor.

Es ist Wahlkampf in Deutschland und ein beliebtes Thema der Politiker vor der Bundestagswahl 2017 ist soziale Gerechtigkeit. Sandra Maischberger nahm das zum Anlass für eine Publikumsdebatte.

Deutschland 2017: Die Kanzlerin verkündet, den Menschen in diesem Land sei es noch nie so gut gegangen wie heute. Meint sie damit alle, die Mehrheit oder nur eine kleine Elite? Wie seit Beginn ihrer Kanzlerschaft vor zwölf Jahren versuchen die Medien, Angela Merkels bisweilen arg formelhafte Worte zu enträtseln. Sandra Maischberger probierte es am späten Mittwochabend in der ARD noch einmal mit einer Publikumsdebatte, diesmal unter dem Motto: „Millionär oder Minijobber: Ist Deutschland ungerecht?“

Es ging um Mütterrente, Hartz IV und angebliche Einkünfte von Konzern-Managern. Und da war der „kleine Mann“, der in der Sendung eine kleine Frau war. Allzu viele Sorgen trägt sie auf ihren schmalen Schultern, denn: Sie hat drei Jobs und kommt doch kaum über die Runden. Netto bleiben ihr nur 1000 Euro, aber sie will lieber „das Amt entlasten“, als von Hartz IV zu leben.

Wer diskutierte mit?

Die Gäste kamen aus ganz Deutschland. Sie hatten sich nach einem Aufruf der Redaktion gemeldet, um an der Debatte teilzunehmen. Unter ihnen ein Rentner-Ehepaar aus Bayern, eine Frau, die mit drei Jobs 1000 Euro netto im Monat verdient, dem Amt aber „nicht auf der Tasche liegen will“, ein Handwerksunternehmer aus Neuss und ein Mann, der nach einem Schlaganfall obdachlos wurde. Zu den bekannteren Gesichtern gehörten: Katarina Barley, SPD-Generalsekretärin – Ralph Brinkhaus, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion – Michael Opoczynski, Wirtschaftsjournalist (WISO)


Große Runde: Sandra Maischberger mit den Gästen ihrer Publikumsdebatte zum Thema soziale Ungerechtigkeit.
Rentner wettert gegen Großfamilie

Richtig spannend wurde es aber, als ein Paar mit vier Kindern und ein rüstiger Rentner mit ihren Meinungen aufeinandertrafen. Nicht unerheblich: Kinder seien schließlich ein Armutsrisiko, schilderte Maischberger.

Krankenpfleger Daniel und Krankenschwester Ilona aus der Nähe von Göttingen schilderten, wie schwierig es sei, mit vier Kindern über die Runden zu kommen. Es bleibe am Ende des Monats nichts übrig, erzählte Daniel, Partnerin Ilona meinte: „Nach dem vierten Kind wollte ich ein Jahr zu Hause bleiben.“ Das klang beides erst einmal plausibel.

„Eine richtige Arbeit suchen“

Nicht aber für Rentner Fontaine aus Berlin, diesmal wird nur der Nachname genannt. Der rüstige Mann, schütteres weißes Haar, weißer Schnauzbart und weit nach vorne geschobene Brille, wurde vorwurfsvoll.

Er griff das Paar persönlich an. „Wenn ich das höre, schwillt mir der Kamm. Die Politiker haben den Bürgern die Selbstverantwortung weggenommen“, sagte Fontaine und wetterte in Richtung des Pärchens: „Dann müssen Sie sich eine richtige Arbeit suchen.“

Ein Raunen ging durch das Publikum.

Das Publikum war irritiert

Doch Fontaine war mit seinen Vorwürfen noch gar nicht am Ende angelangt. Er argumentierte: „Jeder ist für sein Leben verantwortlich, da ist nicht die Allgemeinheit dafür verantwortlich. Jeder sollte sich überlegen, was er im Leben falsch gemacht hat, und zwar von der Jugend an.“

In Richtung Krankenpfleger Daniel meinte er, er solle sich eine „richtige Arbeit suchen. Vier Kinder ist doch nicht die Schuld der Gesellschaft“.

Wieder reagierten viele Gäste im Publikum irritiert. „Wer bezahlt ihre Rente?“, fragt ihn Krankenpfleger Daniel. Der entgegnet barsch: „Das ist eine Frechheit. Ich müsste 99 Jahre alt werden, um das Geld rauszubekommen, was ich eingezahlt habe.“

An dieser Stelle intervenierte Maischberger, allerdings etwas zu spät. Denn längst war die Debatte im Publikum persönlich, und damit ein Ausdruck dafür, wie wenig sich die Leute offenbar gegenseitig gönnen. Als ob es nur um die eigenen Probleme ginge.

„Warum haben bestimmte Bevölkerungsschichten das Problem, sie müssten gegeneinanderstehen?“, fragte Maischberger – und hat damit schon Mitte der Sendung die entscheidende Erkenntnis der 75 Minuten umrissen.

Fontaine wollte gerne weiterdiskutieren. Als ein ehemaliger Hauptschullehrer, der in Hartz IV abrutschte, seine Geschichte erzählte, schwoll dem Rentner offenbar wieder der Kamm, um es in seinen Worten zu sagen.

„Jeder schiebt es auf den anderen. Die Leute stehlen sich aus der Arbeit“, sagte er. „Das hat nicht immer was mit nicht Können, sondern was mit Wollen zu tun. Man kann nicht immer auf Krankheit machen.“
Selbständiger Jurist forderte: „Gas geben“

Der angegriffene Studiogast reagierte in diesem Fall moderat auf die Polemik. Die erste Behauptung, dass es jeder auf den anderen schiebe, wird aber gegen Ende der Sendung nochmal bestätigt.

Diesmal sprachein hoch gewachsener, modisch gekleideter Jurist aus Lünen, Herr Zappler, der sich nach dem Studium eigenen Angaben zufolge selbständig machte.

„Der Staat muss die Leute irgendwann auch laufen lassen. Man muss auch mal Gas geben. Ich war mittwochs nicht auf der Studentenparty. Als Dankeschön wird mir die Hälfte weggenommen“, meinte er und beschwerte sich: „Jemand, der Karriere gemacht hat und sich überlegt, ob er Kinder will oder nicht, muss den Spitzensteuersatz zahlen.“

Rentner gegen Großfamilie, Geringverdiener gegen Gutverdiener, Studierte gegen Familien: Die Debatte bei Maischberger zeigte, dass nicht nur die soziale Kluft, sondern auch eine soziale Missgunst hierzulande große Probleme sind. Sicher aber ist: „Es gibt Armut im Land, das muss man kapieren!“

So betrüblich es auch ist, dass die Politik an diesem Abend ihre Chance nicht genutzt hat, auf die Wähler und ihre Sorgen tatsächlich einzugehen, eines hat der Abend gezeigt: Die bessere Figur hat trotz aller Kontroversen diesmal eindeutig das Publikum gemacht. Das ist bemerkenswert für ein Land, in dem es seit Monaten heißt, das Volk sei so kompliziert und die verantwortungsvolle Politik derzeit wirklich nicht zu beneiden. Vielleicht ist es ja genau andersrum.

von

Günter Schwarz – 07.04.2017