(Ankara) – 55 Millionen Stimmberechtigte entscheiden heute nach einem langen polemisch geführten Wahlkampf über eine Verfassungsreform in der Türkei. Seit 6 Uhr mitteleuropäischer Zeit sind die Abstimmungslokale in der Türkei geöffnet.Die Wähler entscheiden über eine Verfassungsreform, die bei Annahme mehr Macht für Präsident Recep Tayyip Erdoğan vorsieht. Erdogan selbst hat inzwischen seine Stimme abgegeben. Der heutige Entscheid gilt als einer der bedeutendsten in der türkischen Gesellschaft seit Gründung der türkischen Republik 1923 durch Kemal Atatürk.

Es steht heute einer der bedeutendsten Entscheide in der türkischen Gesellschaft seit der Gründung der Republik 1923 an. Das Land ist seit Jahrzehnten eine parlamentarische Demokratie. Auf Drängen von Präsident Recep Tayyip Erdoğan stimmt die Bevölkerung nun über einen Wandel des politischen Systems ab.

Fast 60 Mio. Stimmberechtigte

55,3 Millionen Wahlberechtigte sind zur Teilnahme an der Volksabstimmung aufgerufen. Im Ausland waren zusätzlich 2,9 Millionen Türken zur Wahl zugelassen, dort wurde bereits abgestimmt.  
Die Wahllokale schliessen im Westen um 16:00 Uhr mitteleuropäischer Zeit (17 Uhr Ortszeit), im Osten des Landes eine
Stunde früher. Unmittelbar danach beginnt die Auszählung. Ergebnisse werden am Sonntagabend erwartet.
 

Alle Macht dem Präsidenten

Die Verfassungsreform für ein Präsidialsystem ist umstritten, weil sie dem Präsidenten praktisch die ganze exekutive Macht in die Hände legt und die Gewaltenteilung größtenteils aufhebt. Das Parlament würde massiv geschwächt und der Präsident könnte direkt und indirekt Einfluss auf die Justiz nehmen.

Zudem könnte damit der Präsident die Minister allein ernennen und entlassen können, einen Premierminister gäbe es nicht mehr.

Umstritten ist auch, dass der Präsident nicht mehr neutral sein müsste, sondern sogar Parteichef werden könnte. In der Person von Präsident Erdoğan wäre er der Chef der regierenden AKP, die im Parlament eine große Mehrheit hat.

Der Todesstrafe den Weg ebnen

Nach den Worten von Präsident Erdoğan würde ein Ja zu seiner Verfassungsreform den Weg zur Todesstrafe frei machen. Er hat für den Fall seines Sieges eine Wiedereinführung der Todesstrafe in Aussicht gestellt. „Die Entscheidung vom Sonntag wird den Weg dafür öffnen“, sagte Erdoğan am Samstag vor jubelnden Anhängern.

Politische und wirtschaftliche Stärkung

Präsident Erdoğan und seine Mitstreiter argumentieren anders: das von ihnen angestrebte neue System würde die Türkei politisch und wirtschaftlich stärken und stabilisieren. Der Präsident könnte nicht ausserhalb jeder Kontrolle regieren, sagt Erdoğan, denn das Parlament hätte die Möglichkeit, gegen den Präsidenten bei schweren Verfehlungen ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten. Aber für dieses Verfahren sind die Hürden hoch.

Die Volksabstimmung findet im Ausnahmezustand des Landes statt. Er wurde nach dem Putschversuch im letzten Sommer über das Land verhängt.

Eine Beobachtermission der OSZE in der Türkei beurteilt den bisherigen Abstimmungskampf als unfair. Die Nein-Kampagne habe viel weniger Zugang zu Medien und finanziellen Mitteln gehabt als die Regierungspartei AKP mit ihrer Ja-Kampagne. Ausserdem seien die Gegner der Verfassungsreform eingeschüchtert und viele ihrer Kundgebungen verboten oder gestört worden.

Diese Änderungen sieht Erdoğans neue Verfassung vor

Machtkonzentration Präsident Erdoğan soll mit der Reform Regierungschef und Staatsoberhaupt in Personalunion werden. Er darf auch Parteichef sein, was heute ausgeschlossen ist.
Gewichtige Dekrete Der Präsident kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen. Eine Zustimmung des Parlaments ist nicht mehr nötig. Diese Dekrete werden aufgehoben, wenn das Parlament ein Gesetz zum jeweiligen Thema verabschiedet.
Gewaltentrennung Der Präsident bekommt noch mehr Einfluss auf die Justiz. Künftig könnte er im Rat der Richter und Staatsanwälte, der u. a. für die Ernennung der Richter und Staatsanwälte zuständig ist, vier der 13 Mitglieder direkt bestimmen. Feste Mitglieder sind der Justizminister und sein Staatssekretär, die ebenfalls vom Präsidenten ernannt werden.
Kabinett Der Präsident kann eine beliebige Anzahl von Vizepräsidenten sowie Minister ernennen (und absetzen). Das Parlament hat keine Mitsprache mehr bei diesem Prozess.
Amtszeit Die Amtszeit des Präsidenten ist auf zweimal 5 Jahre begrenzt. Die Berechnung der Amtszeiten würde mit der Einführung des Präsidialsystems neu beginnen. Durch eine „Hintertür“ könnte diese Beschränkung aber weiter ausgebaut werden und Präsident Erdoğan, einen Wahlerfolg vorausgesetzt, könnte theoretisch bis 2034 an der Macht bleiben.
Neuwahlen Die Zahl der Parlamentarier wird von 550 auf 600 aufgestockt. Sowohl der Präsident als auch das Parlament können Neuwahlen ausrufen. Im Parlament ist dafür eine 3/5-Mehrheit notwendig. Bei Neuwahlen wird sowohl der Präsident als auch das Parlament neu gewählt.
Wahlzeitpunkt Präsident und Parlament werden künftig am gleichen Tag gewählt und zwar für eine Dauer von fünf Jahren. Erstmals soll eine solche Super-Wahl am 3. November 2019 abgehalten werden.

von

Günter Schwarz – 16.04.2017