„Erdoğans Sieg“ spaltet die Türkei
In der Türkei hat Präsident Erdoğan die Verfassungsabstimmung angeblich gewonnen, obwohl ernsthafte Zweifel an einem sauberen und rechtmäßigen Wahlsieg angebracht sind. Doch damit scheint der Weg frei für die Umgestaltung des Staates, denn Präsident Erdoğan und Premierminister Yıldırım preisen bereits lauthals die „historische Entscheidung“ für die Verfassungsreform. Ziemlich genau die Hälfte der Türkei sieht Erdoğans Wahlsieg völlig anders. Das Land ist gespalten wie nie. Oppositionsparteien zweifeln am Abstimmungsresultat und protestieren auch über ihre Vertreter in der Wahlkommission gegen das Ergebnis.
Die türkische Wahlkommission hat das Ja-Lager gemäß dem vorläufigen Abstimmungsergebnis nach Auszählung von 98,2 Prozent mit 51,32 Prozent der Stimmen zum Sieger des Referendums erklärt. Gegen das Präsidialsystem hätten demnach 48,68 Prozent gestimmt. Damit kann ein Präsidialsystems mit einer Machterweiterung des Staatspräsidenten erfolgen.
Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat das „Ja“-Lager zum Sieger des Referendums erklärt. Das Volk habe eine „historische Entscheidung“ getroffen und der Verfassungsänderung zugestimmt. Rund 25 Millionen Türken hätten „Ja“ gesagt. Damit lägen die Befürworter mit 1,3 Millionen Stimmen im Vorsprung. Nun werde das Land die „wichtigste Reform in seiner Geschichte“ angehen, sagte Erdoğan in Istanbul.
Die Wahlkommission erklärt Abstimmung für gültig. Die türkische Wahlkommission hat das Ja-Lager gemäss dem vorläufigen Abstimmungsergebnis mit 51,3 Prozent der Stimmen zum Sieger des Referendums erklärt. Die kemalistische Oppositionspartei CHP will das Ergebnis nicht akzeptieren.
„Erste Aufgabe“ – die Wiedereinführung der Todesstrafe
Der Ministerpräsident Binali Yıldırım erklärte vor Anhängern das Ja-Lager zum Sieger. „Das letzte Wort hat das Volk gesprochen. Es hat Ja gesagt und einen Punkt gesetzt“. Damit eröffne die Türkei ein „neues Kapitel in ihrer demokratischen Geschichte“. „Wir sind eine Nation“, so Yıldırım. Das Ergebnis sei die beste Antwort an die Hintermänner des Staatsstreichs vom vergangenen Sommer.
Dann sprach Erdoğan sofort von seiner „ersten Aufgabe“, die Wiedereinführung der Todesstrafe auf die Tagesordnung zu setzen. Er werde umgehend mit dem Ministerpräsidenten und den Führern der nationalistischen Opposition über das Thema beraten.
Oppositionelle rufen zu Widerstand auf
Gegner des Präsidialsystems haben gegen das Ergebnis protestiert. In der Hauptstadt Ankara versammelten sich Anhänger der größten Oppositionspartei CHP und riefen „Schulter an Schulter gegen den Faschismus“. Der Vorsitzende der Partei, Kemal Kılıçdaroğlu, erklärte, er werde den Sieg des „Ja“-Lagers nicht akzeptieren. Seine Parteianhänger forderten ein klares Zeichen des Widerstands.
Auch im Istanbuler Stadtteil Kadiköy kam es zu Protesten. Anwohner schlugen dort, wie auch in anderen Vierteln von Istanbul und Izmir auf Töpfe und Pfannen. Diese Art des Protests hatte sich während der regierungskritischen Gezi-Proteste im Jahr 2013 etabliert.
Kritik in der Wahlkommission
Auch Oppositionsvertreter in der türkischen Wahlkommission äußerten Zweifel an den Abstimmungsresultaten mit dem knappen Vorsprung bei den „Ja“-Stimmen.
Der Vertreter der CHP in der Kommission, Mehmet Hadimi Yakupoğlu, sagte, es seien bislang deutlich weniger Stimmen ausgezählt als von der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu vermeldet. Auch der Vertreter der pro-kurdischen HDP in der Kommission, Attila Fırat, sagte, die Wahlkommission habe noch nicht annähernd so viele Stimmen ausgezählt, wie jetzt gesagt werde.
Abgeordnete der CHP und der pro-kurdischen HDP riefen die Wahlbeobachter dazu auf, die Auszählung weiter zu verfolgen. Regierungsnahe Medien hätten absichtlich schon früh einen großen Vorsprung der Ja-Stimmen verkündet, um Wahlbeobachter zu demotivieren, kritisierte der CHP-Parlamentarier Eren Erdem. Die CHP will bis zu 60 Prozent Stimmzettel erneut auszählen lassen.
Reaktionen der Europäischen Institutionen
Die EU-Kommission reagiert zurückhaltend. Man warte noch auf den Bericht Wahlbeobachter, auch mit Blick auf angebliche Unregelmäßigkeiten, teilten die EU-Kommission in Brüssel mit. Die Verfassungsänderungen und ihre praktische Umsetzung sollten im Lichte der Verpflichtungen der Türkei als EU-Beitrittskandidat und als Mitglied des Europarats begutachtet werden.
Der Generalsekretär des Europarats, Thorbjörn Jagland, rief die Türkei auf, die Unabhängigkeit der Justiz und die Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten. Dies sei in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert und sei daher von allergrößter Bedeutung. Die Türkei gehört dem Europarat an und hat die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet.
Viel riskiert und vermeintlich viel gewonnen
Für Erdoğan war das Referendum die härteste politische Prüfung, seit er 2014 Staatspräsident geworden ist. Er riskiert mit dem Vorhaben aber nicht nur eine Spaltung in der Bevölkerung, sondern auch einen Konflikt mit Verbündeten, etwa in der NATO und der Europäischen Union.
In der Türkei gilt auch neun Monate nach dem Putschversuch vom Sommer 2016 noch immer der Ausnahmezustand. Mehr als 113’000 Beschäftigte in der öffentlichen Verwaltung wurden entlassen oder beurlaubt. Tausende Menschen wurden festgenommen, darunter etwa 150 Journalisten.
Ökonomie unter Druck
Erdoğan versprach, nach der Verfassungsänderung werde die Wirtschaft stärker wachsen. Allerdings: Nach Niederschlagung des Putsches im Sommer vergangenen Jahres haben viele Touristen das Land gemieden und die Landeswährung Lira stürzte ab. Die Inflation hat elf Prozent erreicht und die Arbeitslosigkeit liegt bei fast 13 Prozent.
Einschätzung von SRF-Korrespondentin Iren Meier
Der türkische Ministerpräsident Binali Yıldırım hat in Ankara die Siegeserklärung abgegeben und auch Präsident Recep Tayyip Erdoğan triumphiert. Er hat erreicht, was er lange angestrebt hat.
Die Türkei wechselt ihr politisches System, die jahrzehntelange parlamentarische Demokratie wird von einem Präsidialsystem abgelöst. Obwohl die Opposition und auch europäische Regierungen vor einer Autokratie in der Türkei gewarnt hatten, befürwortet die Mehrheit der türkischen Bevölkerung ein neues Präsidialsystem. Es gibt dem Präsidenten fast die ganze exekutive Macht, schwächt das Parlament deutlich und hebelt die Gewaltenteilung praktisch aus. Künftig kann der Staatspräsident direkt und indirekt auch Einfluss auf die Justiz nehmen.
Für die Opposition ist dieser Ausgang eine tiefe Enttäuschung. Mehr noch: es ist das Worst-Case-Szenario. Sie hatte sich doch bis zuletzt Chancen auf ein Nein ausgerechnet. Sie zweifelt das Resultat an und verlangt eine Nachzählung, weil es Manipulationen und Unregelmäßigkeiten gegeben habe.
Eines lässt sich jetzt heute mit Sicherheit sagen: die Türkei ist ein tief gespaltenes Land, ein gesellschaftlicher Konsens liegt in weiter Ferne. Auch wenn Ministerpräsident Yıldırım in seiner Rede von Versöhnung und Einheit sprach, davon, dass alle Brüder seien: die Hälfte der Bevölkerung empfindet das anders. Nur schon, dass die großen Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir zu den Verlierern zählen, zeigt dieses.
von
Günter Schwarz – 17.04.2017