Viele Deutsch-Türken kennen „ihr Land“ nur aus Ferienaufenthalten
Auffällig viele Deutsch-Türken haben zu Erdoğans Präsidialsystem „Ja“ gesagt. Das bedeutet aber nicht, dass sie in Deutschland schlecht integriert sein müssen, meinen einige Beobachter dieser Bevölkerungsgruppe.
Die Deutsch-Türken leben hier in demokratischen Verhältnissen und wollen im Heimatland aber ein autoritäres System, was oberflächlich betrachtet von schlechter Integration zeugt. Wenn wir Umfragen und Statistiken glauben dürfen, ist das nicht unbedingt der Fall. Sicher gibt es hier und da gewisse Probleme bei der Integration. Aber in einigen Umfragen sagen bis zu 90 Prozent der Deutschtürken, dass sie sich relativ gut integriert fühlen.
Der Urnengang in Deutschland in Zahlen
- Es leben etwa 3,5 Millionen Türken in Deutschland.
- 1,4 Millionen von ihnen sind wahlberechtigt.
- Etwa die Hälfte von ihnen hat abgestimmt.
- Rund 440.000 (63 Prozent) stimmten mit „Ja“.
Es gibt viele Gründe, weshalb die Leute „Ja“ gestimmt haben. Nicht alle haben damit zu tun, wie gut die Deutsch-Türken hier integriert sind oder nicht. Es gibt welche, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, hier leben und sehr gut Deutsch sprechen. Sie haben einen Job, sie sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen, und haben trotzdem „Ja“ gestimmt, weil sie die AKP gut finden. Und das lässt sich nicht einseitig erklären.
Auch Leute, die sich in Deutschland angekommen fühlen, sagen, dass sie sich mit der Türkei noch eng verbunden fühlen. Doch viele von ihnen kennen das Land nur aus wenigen Wochen Ferien pro Jahr, die sie mit gleichgesinnten Freunden und Familienmitgliedern verbringen. Viele haben immer noch ein Bild der AKP aus der Zeit der „Nuller-Jahre“. Damals war Erdoğan ein großer Reformer, der viel Gutes, Neues im Land eingeführt hat. Es ist noch nicht bis zu ihnen durchgesickert, dass sich die Türkei und Erdoğans Politik in den letzten Jahren massiv verändert haben.
Obwohl die deutschen Medien regelmäßig über die Lage in der Türkei berichten, ist das ein Phänomen, das wir auch im Trump-Zeitalter immer öfter sehen: Die „Filterblasen“! Natürlich konsumieren viele Leute türkisch- oder deutschsprachige Medien, die aus der Türkei gesteuert werden. Gleichzeitig nimmt aber auch die Ablehnung von deutschen sogenannten Mainstream-Medien zu. Viele sagen, wenn in den deutschen Medien immer negativ über die Türkei berichtet wird, entspricht das nicht ihrer eigenen Wahrnehmung, also kann das gar nicht wahr sein. Da entsteht eine Verzerrung. Und es gibt in den deutschen Medien eine gewisse Obsession mit Erdoğan. Er provoziert es geradezu, dass man über ihn schreibt – und das vor allen Dingen negativ. Doch das führt dazu, dass die Türken den Eindruck haben, es werde auf ihrem Land herumgehackt. Sie unterscheiden nicht zwischen die Person Erdoğan und der Türkei als Ganzes. Viele können das nicht mit ihrem Patriotismus in Einklang bringen.
Ein großes Defizit in der deutschen Integrationspolitik ist, dass die Diskussion über Integration in Deutschland erst nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington in aller Ernsthaftigkeit geführt wurde. Davor herrschte die Einstellung, die Leute passen sich irgendwie an, das wird schon klappen. Wenn sie sich nicht anpassen, regen wir uns vielleicht ein wenig auf auf und das ist es. Vieles wurde nicht gezielt gesteuert. Nach 9/11, als es vor allem um Muslime ging, ging eine hysterische Diskussion los, die auch nicht immer hilfreich war. Und nun kommen wir langsam in einen Bereich, in dem wir diskutieren, dass Integration nicht einfach ist und natürlich nicht automatisch geschieht. Und wir merken, dass wir in Deutschland auch Probleme haben.
Es gibt zum Beispiel das Problem, dass Leute in der dritten Generation hier sind und immer noch nicht anständig Deutsch können. Aber es wird jetzt auch darüber gesprochen, was das für die Mehrheitsgesellschaft bedeutet. Es war ganz lange – und ist zum Teil noch immer – ein Tabu in Deutschland, dass sich nicht nur Neuankömmlinge verändern und anpassen, sondern dass sich auch die Aufnahmegesellschaft verändert. Und das besteht nicht nur darin, dass es jetzt überall Döner zu kaufen gibt. Diese Veränderungen gehen etwas tiefer und können bisweilen auch Konflikte hervorrufen.
von
Günter Schwarz – 20.04.2017