Türkischer „Führerkult“ schwächt Parlament und Parteien
Das Referendum in der Türkei ist zugunsten von Staatspräsident Reçep Tayyip Erdoğan ausgegangen. Man könnte meinen, auch zugunsten seiner Partei, der AKP. Doch dem ist nicht so – alle Parteien einschließlich seiner eigenen AKP sind geschwächt aus dem Referendum hervorgegangen.
Die Annahme, die AKP gewinne durch die Annahme der Verfassungsreform an Macht ist ein großer Irrtum. Im Gegenteil, sie wird geschwächt, denn das System, welches Erdoğan durch das Referendum jetzt einführen wird, schwächt alle Parteien in der Türkei. Es ist ein Präsidialsystem und verlagert den Fokus weg vom Parlament und den Parteien hin zum allmächtigen Präsidenten. Da dieser die AKP, aus der er einst hervorgegangen ist, in den Schatten stellt, gilt dieses für diese Partei besonders: Man kann also nicht sagen, dass sie durch das Referendum gestärkt wurde.
Das kann man sagen, die AKP ist tot – und das nicht erst jetzt aufgrund des Referendums, sondern schon seit einer ganzen Weile. Man konnte in den letzten Monaten und Jahren beobachten, dass die AKP-Anhänger zu Erdoğan -Anhängern geworden sind. Das ist ein großer Unterschied zu den Anfängen der AKP als islamischer Bewegung. Bei den Menschen, die die Partei im Jahr 2001 gegründet haben, standen die Reformideen im Vordergrund. Davon ist heute nichts mehr zu sehen und zu spüren. Inzwischen ist alles auf Erdoğan ausgerichtet. Wenn er sagen würde, wir lösen die AKP auf, wäre das für die meisten Anhänger in Ordnung. Für sie zählt einzig und allein, dass Erdoğan da ist.
Sobald man in Istanbul auf die Straße geht, bekommt man den Personenkult um Erdoğan zu spüren. Durch den Abstimmungskampf ist die ganze Stadt zugepflastert mit Erdoğan -Porträts. Hochhäuser sind nahezu in sein Porträt eingewickelt. Bei sogenannten Meetings jubeln bis zu zwei Millionen Menschen Erdoğan zu. Das ist etwas, was wir in Europa als nichts anderes als „Führerkult“ bezeichnen und aus der Vergangenheit nur von Adolf Hitler kennen.
Die Menschen rufen in Sprechchören seinen Namen. Sie haben sein Konterfei auf Kopftüchern, Anstecknadeln und T-Shirts gedruckt. Zahlreiche Familien geben ihren Babys die Vornamen des Präsidenten, Recep Tayyip. Viele sagen mir, sie würden sterben für Erdoğan, sie würden alles für ihn tun. Er sei ihr Vater. Das ist eine Liebe, die man aus europäischer Perspektive rational nicht verstehen kann.
Aufgrund der Reform darf Erdoğan wieder einer Partei angehören. Er wird voraussichtlich sogar Vorsitzender der AKP. Doch für die Partei macht das keinen großen Unterschied. Erdoğan ist in Grunde nie vom Vorsitz der AKP zurückgetreten. Mit seiner Wahl zum Präsidenten trat er zwar offiziell von dem Amt zurück, weil er es musste, aber wer seinen Reden lauscht, merkt, dass er stets der Chef der AK und, des ganzen islamisch-konservativen Lagers geblieben war und noch ist. Er hat auch immer wieder ganz offen Wahlkampf gemacht für die AKP, obwohl er gemäß der türkischen Verfassung eigentlich ein neutraler Präsident – ähnlich des deutschen Bundespräsidenten – hätte sein müssen. Insofern ist das eine reine Formalität. Jeder in der Türkei weiß, dass alles, was in der AKP geschieht, auf Erdoğan ausgerichtet ist und nur auf seinen Willen hin passiert.
Die AKP wird nur de facto weiter existieren, um Erdoğan Rückendeckung zu geben. Sie ist wie eine Hülle von dem, was sie einst war. Es ist nicht anzunehmen, dass sie schon morgen von Erdoğan abgeschafft wird, denn er braucht diese Partei in ihrer Alibifunktion. Man muss bedenken, Erdoğan hat sich nie selbst als Diktator gesehen. Er sieht sich als „waschechten“ Demokraten. Er wurde gewählt, und das ist für ihn ganz wichtig. Und er ist immer bemüht, die demokratische Ausrichtung des Landes zu betonen. Dazu braucht er – wie andere Führer seines Kalibers vor ihm – eine Partei im Hintergrund. Sie gibt den Menschen das Gefühl, teilzuhaben. Insofern ist die AKP ein wichtiger Faktor, auf den er seine Macht stützt.
von
Günter Schwarz – 22.04.2017