Tumulte nach dem Urteil im „Ampelmord-Prozess““ am Landgericht Hildesheim, eine Schießerei zwischen zwei verfeindeten Familien der Mhallamiye-Kurden (M-Kurden) vor dem Lüneburger Klinikum, verletzte Polizisten am Hamelner Gericht.

Die Zahl der Ermittlungsfälle in Verbindung mit Familien-Clans in Niedersachsen steigt. „Von 100 im Jahre 2002 auf 1.000 im letzten Jahr“, sagte Frank Federau, Sprecher des Landeskriminalamts (LKA) Niedersachsen. Aber kritisch ist nicht allein die zunehmende Anzahl der Fälle. Es geht um ein grundsätzliches Problem: Die Familien-Clans lehnen den Rechtsstaat ab. Gesetze und gesellschaftliche Regeln spielen für sie keine Rolle.

Bewährungsstrafen gelten als Schwäche der Justiz

Bei den Straftaten handele es sich zumeist um Rohheits- und Gewaltdelikte, aber auch im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität seien arabische Familien-Clans aktiv. Wie schwer die Arbeit für Justiz und Ermittlungsbehörden ist, zeigte der jüngste Prozess gegen eben jene sechs Angeklagte, die in Hameln nach dem tödlichen Fenstersprung eines Familienmitglieds Polizisten und Krankenhauspersonal verletzten. Sie kamen mit Bewährungsstrafen davon – weil sie die Taten gestanden. Das war Teil eines „Deals“ zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung.

Hameln-Prozess: „Gelebte Ablehnung dieses Staats“

Eine Stunde lang verlas der Richter am Landgericht Hannover am Mittwoch das Urteil gegen die sechs M-Kurden. Möglichst transparent sollte die Entscheidung der Justiz sein – zwischen der Bestrafung der Taten, der Berücksichtigung der tragischen Umstände sowie der Schaffung einer Integrationsperspektive für die Angeklagten. Sie, so machte der Richter nach seiner Einschätzung deutlich, lehnen Staat, Polizei und Justiz ab. Der Angriff auf Beamte und Sanitäter sei „gelebte Ablehnung dieses Staats.“ Man wolle die Angeklagten aber nicht in Sippenhaft nehmen: „Es kommt nicht darauf an, ob man sich M-Kurde nennt oder nicht. Es kommt darauf an, was man gemacht hat.“

„Alles außerhalb des Clans ist Feindesland“

In der Vergangenheit hat sich allzu oft gezeigt, die Clans erkennen die Autorität des Staates und der Justiz nicht an. Einen tieferen Blick in das nahezu geschlossene System der Familien gibt der Politologe und Sozialforscher Ralph Ghadban. Er hat sich als einer der wenigen in Deutschland mit den Mhallamiye-Kurden beschäftigt und einige auch als Sozialarbeiter betreut. Es gebe keine Gruppe, für die Ghadban so viel getan habe, wie für diese Menschen, weil er ihre schwierige Lage kannte. „Bei den Clan-Strukturen, den tribalen Verhältnissen, überall in der Welt beschränkt sich die Ethik auf den Clan selbst.“ Das bedeute konkret: „Alles außerhalb des Clans ist Feindesland.“ Zu Beginn seien die M-Kurden Deutschland dankbar gewesen, nachdem sie Ende der 1970er-Jahre als Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Libanon aufgenommen worden waren, sagt er.

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Ziviles Verhalten gilt es Schwäche

Doch die deutsche Gesellschaft habe es versäumt, die positive Grundhaltung dieser Menschen zu nutzen und sie zu integrieren, sagte Ghadban. Über die Jahre seien sie sozial ausgegrenzt worden. Und so hätten sie dann die Schwäche der offenen Gesellschaft entdeckt, dass sich die Leute nicht wehren. So sei eine Verachtung für die Menschen hier entstanden, denn „in ihren Männlichkeitsvorstellungen gilt nur Kraft und Macht gegeneinander. Und wenn einer sich human und zivil verhält, wird das als Schwäche betrachtet.“ Derzeit leben laut LKA 25.000 Mitglieder solcher libanesisch-kurdischen Clans in Niedersachsen. Nur ihrem eigenen Wertesystem folgend, treiben sie den Rechtsstaat an seine Grenze, heißt es aus der Behörde.
Mobilität der Clans gefährdet Polizisten

„Mittlerweile sind die Familien vernetzt und mobil“, erklärt Federau. Das würden die Clans bei Angelegenheiten mit der Polizei nutzen: „Innerhalb weniger Minuten können andere Familienmitglieder hinzu gerufen werden und dann kann eine Situation eskalieren und gefährlich werden.“ Wenn dann ein Mitglied verletzt wird, steht die ganze Familie dahinter. Das zeige den hohen Grad der Mobilisierung, der gefährlich für die Beamten im Einsatz werden kann.

M-Kurden als Vorbild für Neuankömmlinge

Ghadban blickt mit Sorge in die Zukunft, denn die Form der sozialen Organisation der M-Kurden diene vielen Neuankömmlingen aus Krisengebieten als Vorbild. Die Menschen würden merken, dass die Ablehnung des Staates und der Justiz auch Vorteile bringen kann – eben vor den Gerichten und auf der Straße. „Und offenbar traut sich niemand, dem entgegenzutreten“, so der Islamwissenschaftler.

Häufig kommt es nicht zur Verurteilung

Auch mit Blick auf die Ermittlungsarbeit der Behörden ist die Verschlossenheit der Clans ein großes Problem: „Es gibt in den meisten Fällen keine Zeugenaussagen – auch Aussagen von Beschuldigten gibt es nicht“, erklärt LKA-Mann Federau. In manchen Fällen, das habe das

LKA immer wieder festgestellt, wirkten die Familien-Clans auf Zeugen bei Gerichtsverhandlungen ein, aber auch auf das Sicherheitspersonal, die Polizei, die Justiz. „Das ist eine große Gefahr für den gesamten Rechtsstaat“, so der Sprecher. Doch wie wird man dem nun Herr? Es gebe Anzeichen, dass man durch Gespräche mit den Oberhäuptern gewisse Teile des Clans erreichen kann. „Da stecken wir aber noch in den Anfängen.“ Zudem ist das Problem auch ein gesellschaftliches, nicht nur eines der Sicherheitsbehörden.

„Clan-Chefs müssen Straftaten verhindern“

Für Ghadban gibt es nur eine Möglichkeit, den Clans Herr zu werden: Sie müssten zerschlagen werden. „Ich halte nichts von Vermittlung zwischen Clan und Staat.“ Natürlich müsse das Gespräch gesucht werden, doch nicht als eine Vermittlung der Vorstellungen der Clans, sondern der Staat müsse Forderung klar formulieren. „Die Clan-Chefs müssen Straftaten verhindern und sie mitteilen und nicht nur kaschieren“, so der Experte. Ein Aussteigerprogramm für Clan-Mitglieder sei denkbar – doch dafür braucht es eine starke Justiz und eine starke Polizei. „Wir müssen nach wie vor sehr konsequent einschreiten und die Netzwerke, die die Polizei hat, müssen noch ausgebaut werden“, sagt Federau.

Hameln: Hat Justiz versagt?

Zum Ausgang des Hamelner Tumult-Prozesses in Hannover hat Politologe Ghadban eine klare Haltung: Die Justiz habe massiv versagt. Alle Angeklagten wurden zu Strafen auf Bewährung verurteilt, weil sich die Parteien im Vorhinein auf einen sogenannten Deal geeinigt hatten. „Ich habe den Eindruck, viele Richter haben die Orientierung verloren.“ Ihre Funktion bestehe, neben den souveränen Urteilen, auch im Schutz der Allgemeinheit – in diesem konkreten Fall etwa im Schutz der verletzten Polizisten.

Hintergrund zu den Mhallamiye-Kurden

Mhallamiye-Kurden haben ihre Wurzeln in der Türkei, von wo aus sie Ende der 1920er-Jahre in den Libanon auswanderten. Die Mehrheit stammt aus der südostanatolischen Provinz Mardin. Während des libanesischen Bürgerkriegs in den 1980er-Jahren flohen viele nach Europa, unter anderem nach Deutschland. In Niedersachsen lebt die auch als M-Kurden bezeichnete Minderheit unter anderem in Hannover, Hildesheim, Göttingen, Osnabrück, Braunschweig und Lüneburg.

Einzelne Mhallamiye-Kurden bereiten der Justiz seit Jahren Probleme. Schwerpunkte sind Drogenhandel, Bedrohung und Körperverletzung, Diebstahl, Betrug und Raub. Nach Erkenntnissen des Landeskriminalamtes Niedersachsen ist die Zahl der Straftaten von Mitgliedern der Minderheit in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. 2002 waren es rund 100, im Jahr 2011 bereits 600, und 2016 ging es über 1.000 hinaus.

 

von

Günter Schwarz – 19.05.2017